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Autorenbild: Jan-Christoph HauschildJan-Christoph Hauschild

„Hmm“, sinniert Schwaderlapp. Konzentriert starrt er auf das flüchtige Gebilde, auf das Adenauer ihn soeben aufmerksam gemacht hat. „Ein Häschen?“

 

„Wohl eher ein Lockenkopf. Ein Kopf – mit Rüssel. Ein Mimofant. Sie wissen, dass man Erhard hinter seinem Rücken den Mimofanten nennt?“

 

Schwaderlapp schüttelt artig den Kopf. „Nein, das… Das ist mir bisher nicht zu Ohren gekommen.“

 

Adenauers Gesicht verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ganz einfach. Er verbindet die Empfindsamkeit der Mimose mit dem Gedächtnis eines Elefanten. – Schwupp, ist der Rüssel weg. Und jetzt?“

 

„Ein Ohr?“

 

„Wenn sie mal das Ganze betrachten, von da bis da, ist es ein Schwimmer mit Badekappe.“

 

Die Luft ist stickig im kleinen Pavillon, wegen der schwülwarmen Witterung bleibt die Terrassentür ausnahmsweise geschlossen. Den ganzen Nachmittag schon ziehen blassblaue, dickgeballte und gekräuselte Gewitterwolken über den Himmel. Adenauer, der seinen Privatsekretär zu sich bestellt hat, um ihn mit dem Ergebnis seiner jüngsten Ausarbeitung bekannt zu machen, steht mit Schwaderlapp vor dem Panoramafenster und gibt sich in seinem Beisein einer Lieblingsbeschäftigung hin, der Interpretation sonderbarer Wolkengestalten. Er ermuntert ihn auch zu eigenen Deutungsvorschlägen.

 

„Das da?“

 

„Eine weibliche Büste.“

 

„Sie meinen einen Busen oder eine Büste?“

 

„Schon einen Busen“, korrigiert sich Schwaderlapp, leicht errötend. „Aber jetzt ist es ein Kinn an einem großen Kopf. An einem geradezu monströsen Kopf.“

 

„Ja, das könnte man so sehen. Übrigens – jetzt werde ich mal philosophisch –: Daran können Sie sehen, wie schnell aus etwas Idealschönem durch kleine Veränderungen etwas Hässliches werden kann, eine Missgestalt. Umgekehrt gilt das genauso: Manchmal braucht es nur etwas Geduld, und die Dinge wenden sich zum Guten. Ich sehe aber auch einen Fisch mit einem aufgesperrten Maul. Der dunkle Fleck ist das Auge. Manche Fische, beispielsweise der Zander, haben ja die Augen direkt über dem Maul.“

 

„Ich bewundere Ihre Phantasie, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp. „Phantasie, die aber das Reale zum Ausgangspunkt macht.“

 

„Alles jahrelanges Training“, winkt Adenauer ab. „Es gibt zwei Fähigkeiten, die man als Politiker unbedingt haben muss, wenn man erfolgreich sein will. Einen sicheren Instinkt und rasche Phantasie.“

 

„Rasche?“ vergewissert sich Schwaderlapp.

 

„Sie haben richtig gehört. Die Dinge ändern sich schnell, und die Phantasie muss mithalten. Das gilt für Wolkenbilder genauso wie für die Tatsachen des Lebens. Ich bin in der glücklichen Lage, sehr schnell denken zu können. Vergleichsweise mit Tempo Hundertvierzig, wenn wir annehmen, dass der Normalmensch mit Tempo Sechzig denkt. Da, jetzt ist aus dem Fisch ein tanzender Derwisch geworden. Solche schnellen Veränderungen, die muss man als Politiker mitkriegen. Spüren, analysieren, reagieren. Die Phantasielosigkeit der andern – und selbstverständlich auch ihre Dummheit – ist immer mein Vorteil gewesen. Dumm zu sein ist bekanntlich nicht gerade meine Stärke.“

 

„Das kann Ihnen niemand nachsagen.“

 

„Nachsagen ist das richtige Stichwort, Herr Schwaderlapp“, sagt Adenauer, den Zeigefinger zur Begleitung seiner Worte erhoben. „Genau darum geht es. Setzen wir uns.“

 

Mit einer Armbewegung bugsiert er den Privatsekretär zu dem kleinen achteckigen Salontischchen vor der Regalwand, wo sich zwei mit hellem Stoff bezogene Polsterstühle gegenüberstehen. Höflich wartet Schwaderlapp, bis sein Chef Platz genommen hat, und bevor er selbst sich setzt, vergewissert er sich, dass er dabei nicht an das in seinem Rücken aufgestellte Porträtfoto von Paul VI. stößt.

 

„Den dürfen Sie ruhig umwerfen“, sagt Adenauer mit einem verächtlichen Grinsen. „Wenn der runterfliegt, das macht nichts. Der ist Fliegen gewohnt.“

 

„Der Heilige Vater ist ein moderner Pilger“, entgegnet Schwaderlapp versöhnlich.

 

„So lange er keinen Staatsbesuch bei der Zonenregierung macht, ist mir das auch egal. Also. Es geht um Folgendes. Ich habe in letzter Zeit versucht, ein bisschen Vorsorge zu treffen für die Zeit nach meinem Ableben.“

 

Der in die Höhe gereckte Finger unterbindet Schwaderlapps höflichen Protest. „Nein nein, machen wir uns nichts vor, das kann jeden Tag passieren. In meinem Alter sollte man dahinscheiden können, ohne dass die Menschen schockiert sind. Morgen Nachmittag, wenn meine elf Getreuen hier anmarschieren, werde ich über sehr wichtige Dinge sprechen, die Zukunft unserer Partei und unseres Landes betreffend. Nicht über Zeiten und Fristen; mehr über das Grundsätzliche. Ich werde Aufgaben verkünden, und diese elf Herren werden meine Zeugen sein. Eine Sache, Herr Schwaderlapp, liegt mir aber genauso am Herzen, und das ist mein Nachruf. Und den habe ich beschlossen Ihnen anzuvertrauen.“

 
 
 

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