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Autorenbild: Jan-Christoph HauschildJan-Christoph Hauschild

Bonnnn. Bonnnn. Bonnnn. Die Kirchenglocke schlägt mollig zur Dreiviertelstunde. Tick. Tick. Tick, antwortet Adenauers Spazierstock im trägen Rhythmus seiner Schritte. Die unerbittlich ansteigende Karl-Broel-Straße verlangt ihm einiges an Kondition ab. Das frühsommerliche Wetter hat seine Stimmung gehoben und ihn zu einem längeren Kräftigungsspaziergang animiert. Heute ist die Luft leuchtend klar, der Himmel zartblau. Die Hälfte der Pilgerstrecke, die ihn von seinem Zuhause am Zennigsweg bis zum Schreibwarengeschäft von J. C. Heylandt geführt hat, ist bereits absolviert; in seiner linken Manteltasche steckt, zu einem schmalen Rechteck gefaltet, die neue Ausgabe des verlässlich gut unterrichteten „Rheinischen Merkur“.

 

Wie wenig sich der Ort in den dreißig Jahren, die er hier ansässig ist, verändert hat. Rundherum gutes altes Fachwerk, bretterverschalt mit fahlgrünem Anstrich, dazwischen einige wenige Neubauten mit ausgebautem Dachgeschoss. Bedauerlich nur, dass die schönen alten Obstbäume, die in den ersten beiden Nachkriegswintern aus den Vorgärten verschwunden sind, kaum nachgepflanzt wurden.

 

Hinter einem Maschendrahtzaun kläfft ein Hund, springt wütend gegen ihn an und verfolgt ihn mit seinem Gebell auch noch, als er längst aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Armes Tier. Niemand hat dich gelehrt, wer dein Freund, wer dein Feind ist.

 

Auf den Betonplatten des Bürgersteigs hat der Spazierstock nur ein einförmiges Geräusch produziert. Auf dem groben Mosaik rund um das Marienkapellchen ergibt sich jetzt, wenn die Eisenspitze nicht auf einem der kleinen Steinquader aus grauem Westerwälder Basalt landet, sondern im Spalt dazwischen, eine kleine Abwechslung: Tick – tock. Tock – tick – tick. Tick. Bis Anfang des Jahrhunderts fand hier der Gottesdienst statt. Dann wurde zweihundert Meter weiter der große Kirchenbau im neuromanischen Stil errichtet und die Kapelle musste nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihren Namen Mariä Heimsuchung an das neue Gotteshaus abtreten.

 

Er mag den kleinen Vorgängerbau. Das Neuere ist nicht immer das Schönere. Eher selten. Bruchstein unter einer dicken Schicht Kalkputz. Der rührend überladene Aufbau der Portalfassade. So eine Kapelle, eine kleinere, bescheidenere natürlich, wünscht er sich auf seinem Privatgrundstück. Er hätte sie längst errichten lassen, wäre es ihm nicht seitens des Erzbistums untersagt worden. Frings, die fleischgewordene Opposition.

 

Die Leute irren, die ihn jeden Sonn- und Feiertag in der Zehn-Uhr-Messe sehen und daraus schließen, er sei der hiesigen Pfarrkirche herzlich verbunden. Letztlich ist es nur Bequemlichkeit, dass er der Gemeinde die Treue hält. Und all den Ärger in Kauf nimmt, den ihm der amtierende Pfarrer bis heute bereitet: Ärger über das Fehlen einer der Würde und der Bedeutung der Heiligen Messe entsprechenden Ausschmückung des Altares und des Chores (an Ostern hat während des religiösen Zeremoniells nicht einmal eine Osterkerze gebrannt), Ärger über die seelenlose Ausgestaltung des Gottesdienstes, Ärger über die ungeschickte Liedauswahl und, daraus resultierend, den schlechten Gesang.

 

In seinen Augen trägt allein Pfarrer Paulus dafür die Verantwortung. Seit fünfzehn Jahren steht er der Gemeinde vor und hat bis heute nicht begriffen, dass diese nicht seinetwegen da ist, sondern er ihretwegen. Dazu seine oftmals unerträglichen Predigten. Die Kunst der Predigt ist sowieso schon auf dem absteigenden Ast; dieser Pfarrer aber setzt dem noch die Krone auf. Nichts als Halbwahrheiten und Ungereimtheiten. Immer wieder nimmt sich Adenauer vor, Paulus heimlich mit dem Tonbandgerät aufzunehmen und ihn anschließend mit dem Unsinn zu konfrontieren.

Der Kirchenraum ist immerhin vor gut zehn Jahren etwas angenehmer gestaltet worden. An sonnigen Vormittagen malen die vier neuen Bleiglasfenster im Chor (eingeweiht zu seinem achtzigsten Geburtstag) bunte Flecken auf den Steinfußboden. Dass es vier sind, ist aber nur zu erkennen, wenn man das Glück hat, innen in einer der vorderen Reihen zu sitzen. Hab dieses Glück nicht. Kann dafür jederzeit und ohne Aufsehen zu meinem Platz am Rand des Hauptschiffs huschen.

 

Tock – tick. Tick – tock, morst der Spazierstock. Ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es jemandem aus der Journalistenmeute auffällt, dass ich meine bisherige Gehhilfe aus italienischer Kirsche gegen eine aus russischer Eiche vertauscht habe. Geschenk von Botschafter Smirnow zum neunzigsten Geburtstag. Bei der Übergabe meinte er noch, ich solle ihn nur gleich in Gebrauch nehmen; schnell würde ich feststellen, wie gut es sei, sich zur Abwechslung einmal auf Russland zu stützen.

 

Die Erinnerung zerknittert sein Gesicht in hundert sich kreuzende Fältchen. Das alte Schlitzohr. Hat die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht. Ich habe ihm freundlich bestätigt, dass der Stock gut in der Hand liegt. Dass man damit wahrscheinlich gut losprügeln kann. Und dass er, wenn ich ihn in Gebrauch nehme, nach meinem Takt marschiert. Hat der Herr Smirnow auch richtig verstanden: Im Gleichschritt marschieren heißt gut marschieren. Soll ein russisches Sprichwort sein.

 

Man muss nicht immer nur auf die Sowjets schimpfen. Halte ich für ganz falsch. Man soll auch freundlich zu ihnen sein. Jedenfalls nicht unfreundlich. Wie auf dem Parteitag in Bonn, wo ich dem russischen Bären vor großem Publikum freundlich die Tatze gedrückt habe. Mein Abschiedsparteitag als Bundesvorsitzender. Meine Würdigung der Friedensvermittlung Sowjetrusslands im Streit zwischen Pakistan und Indien. Atemlose Stille, als ich erklärte, dies zeige, dass Russland neuerdings auch den Frieden wolle. Reihenweise sind da die Kinnladen heruntergeklappt. Einige Delegierte sind glatt zur Salzsäule erstarrt. Arme ahnungslose Anfänger. Fast die Hälfte der Deutschen wünscht sich heute eine enge Zusammenarbeit mit den Russen. Vor drei Jahren war es nur etwa ein Viertel. Die Meinungsforscher haben das herausbekommen. Woran sich wieder einmal zeigt, wie dumm die Bevölkerung ist. Entsetzlich dumm. Geradezu himmelschreiend dumm. Tick – tick – tock. Tick. Tick – tock – tick.

 

Gegenüber der Marienkapelle betritt Adenauer jetzt den kleinen Park, der sich in Form eines T zwischen Frankenweg und Drachenfelser Straße erstreckt. Unter dem Trompetenbaum mit seiner ausladenden, dicht verzweigten Krone bleibt er stehen, lehnt den Stock gegen den grobgeschuppten Stamm, nimmt den Hut ab, einen schwarzen Filzhut, dessen Form die Silhouette des Siebengebirges nachahmt, zieht ein buntkariertes Taschentuch heraus, trocknet sich die Stirn, faltet das Taschentuch wieder, steckt es sorgsam zurück, setzt den Hut wieder auf, greift den Stock und lehnt sich mit dem Rücken gegen den Baum. Er spürt die milde Luft auf seiner Haut und nimmt ein paar tiefe Atemzüge. Wieder schlägt die Kirchturmuhr. Zwölf Mal Bonnnn.

 

Vorletztes Jahr im Herbst lag er zwei Wochen mit Fieber flach; zur selben Zeit, als auch die Regierungskoalition kränkelte. Manche Leute sahen in Beidem einen Zusammenhang. Während die Bonner Krise keine zwei Wochen später zum Rücktritt von Bundeskanzler Erhard führte, war er Mitte November wieder genesen, rechtzeitig zur Übergabe einer Stereo-Schallplatte mit seinen Lieblingsmelodien an Altersheim-Bewohner aus Bonn und Bad Godesberg, von der Presse freundlich Alt-Bürger genannt. Bei dieser Gelegenheit gemachte Pressefotos zeigen ihn im Bonner Büro umringt von nicht minder betagten Damen und Herren, die aus seiner Hand dankbar ein frisch signiertes Exemplar entgegennehmen. Alt-Bürger beim Altkanzler. Der „Spiegel“ hat mich kürzlich sogar als Uraltkanzler bezeichnet. Angeblich zur Unterscheidung, weil es neuerdings auch einen Altkanzler Erhard gibt. Sehr witzig. Keinen Respekt vor der Person, keinen Respekt dem Amt.

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Die letzte Beerdigung, an der er teilgenommen hat, ist die von Dr. Adolf Flecken gewesen, nach dem Krieg Mitbegründer der CDU im Rheinland. Gestorben am zweiten Weihnachtstag in seiner Heimatstadt Neuß, im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Das feuchtkalte Wetter war pures Gift für seine Bronchien. Und doch hielt er es für seine selbstverständliche Pflicht, dem alten Weggefährten die letzte Ehre zu erweisen.

 

War nicht das erste Mal, dass ich am Grab eines Jüngeren stand. Letzten September ist schon der dritte von meinen Ministern verstorben. Keiner von denen war älter als ich. Alle weit jünger. Schäffer, Herzinfarkt mit achtundsiebzig. Dehler, keine siebzig, Herzschlag im Freibad. Seebohm, Lungenembolie mit vierundsechzig. Vor vier Jahren starb Heuss, neunundsiebzig. In dem Alter bin ich nach Moskau gefahren, hab die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause geholt. Stand danach noch weitere acht Jahre der Regierung als Bundeskanzler vor. Es waren nicht viele, die mir das zugetraut hatten. Wurden alle eines Besseren belehrt.

 

Was nicht bedeutet, von den üblichen Altersphänomenen verschont zu bleiben. Die immer komplizierter und langwieriger sich gestaltenden morgendlichen Prozeduren vor dem Waschbecken und in der Badewanne. Horstartige Haarbüschel in den Nasenlöchern. Ohrmuscheln, die immer mehr die Tendenz annehmen, sich vom Kopf zu entfernen und nach vorn zu krümmen, als könnten sie dadurch die zunehmende Schwäche des Gehörs kompensieren. Der Verlust von so vielem, über das man früher nie nachgedacht hat, weil sein Besitz so selbstverständlich war. Und die störrische Weigerung des Körpers, das Verlorene zu restaurieren. Vergangen, vergessen, vorbei. Dafür allerlei Wehwehchen und kleine Malheurs. Auch Anzeichen von Verweichlichung. Empfindlichkeit, besonders gegenüber herzlosem Verhalten. Sogar gelegentliche Anwandlungen von Sentimentalität. Um solcher Launen Herr zu werden, bedarf es eines eisernen Willens. Ganz besonders, was Enthemmungen angeht. Äußern sich bei dem einen so, bei dem andern so. Picasso zum Beispiel, der alte Halunke. Dem sein sogenanntes Alterswerk ist ja durchweg eiliges Gekritzel. Neuerdings malt er aber keinen Frauenakt mehr ohne haarige Rosette. Der Rest des Körpers flüchtig angedeutet, der Popo mit Liebe zum Detail. Und zwar serienmäßig. Früher hat ihn diese Region, soweit ich weiß, kaltgelassen. Wie muss der sein Gehirn traktiert haben mit Rotwein und Zigaretten, bis er dafür Interesse entwickeln konnte.

 

Ein paar Schritte vor ihm machen sich zwei Frauengestalten an einem Familiengrab zu schaffen. Könnten doch Gussie und Emma sein, die beiden. Nicht, um mich mitzunehmen. Bloß mal Guten Tag sagen. Wär schön, jetzt die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen, ihnen ein verlegenes Lachen abgewinnen.

 

In der älteren der beiden, einer stämmigen Frau Ende Sechzig mit stattlichem Busen, erkennt er beim Näherkommen die Witwe Pfennigwerth. Mit ihrem vor vier Jahren verstorbener Mann, einem Bäckermeister, befand er sich jahrelang im Kriegszustand, weil der den Südhang des Drachenfels mit einer Seilbahn verschandeln wollte. Durch allerlei Versprechungen war es ihm gelungen, binnen kurzem den gesamten Ortsverein auf seine Seite zu bringen. Die Baupläne sahen vor, den Sessellift zwischen der Talstation gegenüber von Pfennigwerths Konditorei in Rhöndorf und der Löwenburg verkehren zu lassen, genau über seinem Grundstück. Die Fahrgäste hätten dann zur allgemeinen Gaudi in seinen Garten spähen, ihm beim Bocciaspielen und Kaffeetrinken zusehen können. Um das unselige Projekt zu verhindern, musste Adenauer in Stadt und Land seinen ganzen Einfluss geltend machen. Die Niederlage konnte Pfennigwerth nie verwinden.

 

Seiner Witwe hat in jüngeren Jahren üppiges blondes Haar zu einem imposanten Aussehen verholfen. Üppig ist es immer noch, dabei von viel Weiß durchzogen, doch macht es sie jetzt, wo sie alt und ohne ihren hitzköpfigen Ehemann ist, auf unangenehme Weise unübersehbar. Ihre Begleiterin ist eine junge Frau mit kurzem schwarzem Haar, wie es auch Gussie getragen hat.

 

„Guten Tag“, sagt er und lüftet, als beide Frauen sich zu ihm umdrehen, höflich den Hut. Seine Stimme kommt gepresst, die Anstrengung des Wegs hat ihm Atem geraubt.

 

„Der Herr Adenauer“, sagt die Ältere und blickt finster zu ihm hoch. Dann richtet sie sich auf, wobei sie sich auf den Grabstein stützen muss.

 

Schon vor seinem Rücktritt sprachen ihn beide Pfennigwerths niemals anders als Herr Adenauer an. Offenbar waren sie der Meinung, Alteingesessene hätten das Recht, sich untereinander formlos zu begegnen.

 

Wie plump die Bäckerwitwe trotz ihres forschen Auftretens im Vergleich mit dem straffen jungen Frauenkörper neben ihr wirkt. Jetzt reicht sie ihm sogar die Hand. Dann sagt sie: „Das ist meine Schwiegertochter, die Maria.“

 

Die junge Frau, hübsch auf unauffällige Weise, mit großen dunklen Augen, gewährt ihm ebenfalls einen Händedruck und deutet dabei einen Knicks an.

 

„Sind Sie etwa das ganze Stück gelaufen?“, fragt die Witwe und mustert ihn skeptisch von Kopf bis Fuß.

 

„Keine Sorge“, erwidert Adenauer gelassen. „Ich habe mich unten am Tor absetzen lassen.“

 

„Ich meine nur“, fährt die Witwe ungerührt fort, „weil ihr Schuhzeug nicht in Ordnung ist. Sie haben beide Schnürsenkel offen.“

 

Er starrt auf seine Schuhe, und dabei entschlüpft ihm eine überflüssige Bestätigung: „Tatsächlich.“

 

Ächzend geht die Witwe mit dem rechten Knie zu Boden, während sie den linken Fuß vor dem Körper aufsetzt. Sofort tut die Jüngere es ihr nach. „Aber Mutter“, sagt sie mit heller, klarer Stimme, „lass mich das doch machen.“

 

„Nein, das mache ich. Dir ist das ja nicht mal aufgefallen“, weist die Witwe sie zurecht. Sorgfältig bindet sie erst die eine, dann die andere Schleife, während Adenauer missmutig seinen Spazierstock tiefer und tiefer in den Gehweg bohrt.

 

Die Pfennigwerth soll nicht nett zu mir sein. Außerdem gehört es sich nicht, dass Menschen vor Menschen knien. Nur beim Papst habe ich mal eine Ausnahme gemacht. Der hieß damals aber auch Pius. Seinen naiven Nachfolgern Johannes und Paul habe ich bloß die Hand gedrückt. Beide ohne Sinn für die Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus. Franco hat ganz recht: Das einzige Resultat dieser Politik sind eine Million kommunistische Wähler mehr in Italien und hundert Millionen entmutigte Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang.

 

„Aber nicht, dass Sie im Dorf rumerzählen, ich wär vor ihnen auf die Knie gefallen, Herr Adenauer“, sagt die Witwe in gereiztem Tonfall, nachdem sich beide Frauen wieder aufgerichtet haben. „Das bin ich nämlich nicht. Das war nur –“

 

„Christliche Nächstenliebe“, kommt ihr die Schwiegertochter zu Hilfe.

 

„Christenpflicht“, verbessert sie die Ältere mit einem harten Zug um den Mund. Anscheinend will auch sie auf keinen Fall versöhnlich wirken.

 

„Keine Angst, Frau Pfennigwerth“, knurrt Adenauer. „So etwas Niederträchtiges käme mir nie in den Sinn. Sie ihrerseits dürfen gern erzählen, dass Sie mich getroffen haben. Dann wissen die Leute wenigstens aus erster Hand, dass ich noch nicht ins Gras gebissen habe.“

 

„Da sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig“, versetzt die Witwe. „Übrigens, im August wird mein Enkel Peter acht. Raten Sie mal, was er zum Geburtstag bekommt.“ Spott lauert in ihren Mundwinkeln.

 

„Eine Spielzeug-Seilbahn?“

 

„Wer hat ihnen das denn verraten?“

 

„Ach, den Witz hat ihr seliger Mann schon vor fünf Jahren gemacht. Geantwortet habe ich ihm folgendes: ‚Wie originell, Herr Pfennigwerth. Und wissen Sie, was sich mein Enkel Konrad zu Weihnachten wünscht? Einen Abrissbagger.‘“

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Mit Billigung seiner Ärztin kehrt Adenauer zwei Wochen später wieder zur Gewohnheit einer täglichen Promenade zurück. Für den ersten Spaziergang lässt er sich von seinem Chauffeur am Ende der Löwenburger Straße absetzen. Es drängt ihn, den Ort zu inspizieren, unter dessen Erde alle seine Liebsten ruhen und wo auch seine Lebensreise um ein Haar an ihr zeitliches Ende gelangt wäre.

 

Der Chauffeur heißt Scharoun, ist aber kein Verwandter, sondern nur ein Namensvetter des berühmten Architekten, der das kriegszerstörte Berlin vollständig abreißen und in eine von neuen Schnellstraßen kreuz und quer durchzogene Betonlandschaft verwandeln wollte. Ohne jeden Respekt gegenüber dem Gewachsenen und Gewordenen. Was sein Scharoun, hätte er je davon erfahren, aus verkehrstechnischer Perspektive zweifellos gutgeheißen hätte. Im Übrigen ist er ein zuverlässiger, erfreulich schweigsamer Mann, dessen dichtes, kurzgeschnittenes Haar mittlerweile, wo er dem Pensionsalter näher rückt, vom ursprünglichen dunklen Aschblond zu einem in Kombination mit seiner Livreejacke vornehm wirkenden Silbergrau gewechselt ist.

 

Scharoun zieht eine besorgte Miene, als sein Chef ihm beim Aussteigen erklärt, dass er seine Dienste heute nicht mehr benötige. Es ist noch nicht lange her, dass er Tag für Tag zwei Sauerstoffflaschen aus der Bonner Universitätsklinik geholt und durch den Hintereingang, ungesehen von der Meute der Fotografen, ins Haus geschmuggelt hat.

 

„Soll ich nicht lieber warten, Herr Bundeskanzler? Für alle Fälle?“

 

Adenauer schüttelt den Kopf. Der schwarze Mercedes kommt ihm mehr und mehr wie ein blankpolierter Sarg vor. „Nicht nötig. Ich will nur in aller Ruhe auf dem Gelände spazieren gehen. Und auf dem Rückweg werde ich mich schon nicht verlaufen. Na los. Ihre Frau wird sich freuen.“ Als der Wagen außer Sichtweite ist, stößt er einen Seufzer der Erleichterung aus.

 

Der Rhöndorfer Waldfriedhof liegt auf dem nach Süden zugewandten Abhang der Wolkenburg, wie der Nachbarhügel des Drachenfels heißt, auf dem sich einst die gleichnamige Burg befand. Kein melancholischer Ort, an dem einen schlimmstenfalls Depressionen überkommen. Vielmehr an schönen Tagen sogar so anziehend, dass man meinen könnte, der Tod sei hier fehl am Platz. Ortsfremde haben Schwierigkeiten, sich auf dem terrassierten Gelände zurecht zu finden, das in die Parklandschaft des hinteren Rhöndorfer Tals eingebettet ist und von einem Netz aus Brezelwegen in acht rundliche Grabfelder geteilt wird.

 

Im Rundfunk hatten sie mich schon für tot erklärt. Passiert auch nicht jedem. Vielleicht aus Vorfreude? Paul hat mir das erzählt. Auch, dass er mir schon die Sterbesakramente gespendet hatte. Monsignore Paul, mein Sohn und Seelsorger. Ihm zufolge befand er sich in einem derart moribunden Zustand, dass niemand aus seiner Umgebung noch ernsthaft Hoffnung hegte. Vor dem abgeschirmten Wohnhaus seien Dutzende Menschen versammelt gewesen, einige mit Ferngläsern, dazu Kamerateams und Fotoreporter mit kanonenförmigen Objektiven; die Familienmitglieder hätten bei jedem Besuch erst ein Spalier aus hochgereckten Hälsen und klickenden Kameras passieren müssen. Den Ärzten und Pflegern sei es nicht anders gegangen. Der Briefträger habe sogar von einem Bestechungsversuch durch die „Bild-Zeitung“ berichtet. Die Sensationspresse will auch alles verhackstücken. Bis zum letzten Schnaufer. Doch wie um das alte Sprichwort zu bestätigen, wonach Totgesagte länger leben, trat in jener Nacht, von der es hieß, es werde vermutlich seine letzte sein – Paul zufolge war das Fieber auf über vierzig Grad gestiegen, der Puls kaum noch fühlbar gewesen –, und alle mit seinem Ableben rechneten, die Wende ein. Der Herrgott muss es sich im allerletzten Moment anders überlegt haben. Ließ mich im Durcheinander des vermeintlich letzten Stündleins entwischen. Wir alle sind blind gegenüber seinen Absichten.

 

Langsam, aber zielsicher schreitet Adenauer den gewundenen Weg zum bergseitigen Rand im Norden des Areals hinauf. Was für eine großartige Idee der alten Ägypter, ihre Herrscher in Pyramiden von gewaltigen Ausmaßen beizusetzen. Sie dachten: Wenn man dem Vergessenwerden ein Schnippchen schlagen kann, dann mit diesem Ewigkeitsversprechen aus dichtgefügten Steinquadern. Dummerweise haben sie nicht Mnemosynes Fühllosigkeit bedacht, die den Mohn des Vergessens ohne Ansehen der Person streut. Nein, das Menschengedächtnis lässt keine Gerechtigkeit walten. Es sichert Ruhm wie Schande einen Platz. Wahrscheinlich ist in den Chroniken sogar häufiger von Spitzbuben die Rede als von Wohltätern der Menschheit. Zum Glück führt der liebe Gott ein eigenes Register.

 

Die meisten Grabsteine hier ziert neben der Inschrift nur ein schlichtes Kreuz, wenige sind kunstvoller gestaltet – mit einem Paar betender Hände, Weintrauben und Weinlaub, Tauben mit und ohne Ölzweig. Das eingemeißelte Fischsymbol ist oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Ein geflügelter Engel auf einem Pfeilerstumpf weist mit der linken Hand auf die Grabstätte der Winzerfamilie Broel, in der rechten hält er eine Tafel mit der Reliefaufschrift Auf Wiedersehen. Eine Hoffnung, die er teilt. Jesus ist auch wiedergekehrt. Kurz auferstanden, um sich zu zeigen. Wegen dem Augenschein. Der Mensch glaubt nur, was er sieht. Der Tod darf nicht das letzte Wort behalten. Wir gehen fort, um wiederzukommen. Daran glaub ich. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Seele mit dem Tod vernichtet wird. Irgendwie wird sie existent bleiben. Vielleicht als Sonderform der Materie, mit eigener Dimension. Bei Gott. Im Universum ist doch Platz genug. Wofür sonst gibt es diesen unendlichen Raum, der mit lauter Leere gefüllt ist? Die Wissenschaft ist allerdings darauf erpicht, das Gegenteil zu beweisen. Mit der Folge, dass immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Können ihre Lehren nicht mehr mit der Wissenschaft überein bringen. An dieser verfluchten Neugier und Wissbegier wird die Menschheit noch einmal zugrunde gehen. Man muss nicht in alles seine Nase stecken. Für Augustinus war das sogar eine schwere Sünde. Wissen soll uns zu Gott führen, nicht von ihm weg. Außerdem geschehen jeden Tag Dinge, die sich nicht erklären lassen. Zum Beispiel das Bestehen der Naturgesetze. Sie beschreiben und berechnen, das können wir. Das ja. Aber warum es sie überhaupt gibt und sie funktionieren... Das hat mir noch keiner erklären können.

 

Die erste Beerdigung auf dem Waldfriedhof hat 1921 stattgefunden. Bis dahin sind die Rhöndorfer in Honnef beigesetzt worden. Trotzdem findet sich unter den Grabmälern das eines 1840 verstorbenen Joseph Anton Steiger. Es wurde ebenso hierher verlegt wie die Adenauersche Familiengrabstätte. Ursprünglich befand sie sich auf dem Melaten-Friedhof in Köln, doch nach Gussies Tod hatte er Emmas sterbliche Überreste wie auch die seiner Eltern, seines Patenonkels und des kurz nach der Geburt gestorbenen Sohnes Ferdinand hierhin umbetten lassen, samt der für Emma errichteten Stele aus Muschelkalk, deren Relief als unübersehbares Zeichen des Glaubens den auferstandenen Christus mit einer Kreuzfahne und einem knienden Engel zu seiner Rechten zeigt.

 

Zwei Ehefrauen habe ich zu Grabe getragen. Von einem Tag auf den anderen sind sie aus meinem Leben verschwunden. Weg für immer. Beiden wäre vermutlich ein sehr viel längeres Leben beschieden gewesen, hätten sie auf das schwierige Leben an seiner Seite verzichtet. Die erste hatte ihm aufgrund ihrer Kölner Verwandtschaft den Weg in die Politik geebnet. Emma. Keine Schönheit auf den ersten Blick. Um die zu entdecken, musste man schon spitzfindig sein. Immer heimlich leidend, dabei zutiefst lebensbejahend. Kummer vermeidend, Fehler ignorierend, ein musisch-fröhlicher Charakter, der ihm in dem einen oder anderen seiner Enkelkinder manchmal wiederbegegnet. Gestorben nach zwölfjähriger Ehe an Nierenversagen nach einer banalen Pilzvergiftung. Der Rest der Familie hatte die Mahlzeit ohne größere Beschwerden überlebt, aber Emmas Nierenfunktion war durch eine Rückgratverkrümmung beeinträchtigt, drei Geburten hatten das Leiden noch verschlimmert. Die Kinder, die er mit ihr gezeugt hat, sind ihr Tod gewesen. Im Nachhinein ist man immer schlauer.

 

Der Rest des Jahres und auch das folgende waren erfüllt von körperlichem und geistigem Leid: Witwer mit drei kleinen Kindern, deren Erziehung er in fremde Hände geben musste, belastet durch ein Übermaß an Arbeit, die doch das einzig wirksame Narkotikum war für seinen Schmerz. Mit dem Verlust wirklich fertig zu werden – dabei half ihm auch die Vielzahl seiner Aufgaben nicht. Jeden Tag gab es Leerlauf, in dem die Gedanken auf ihn einstürmten. Und es gab die Nächte, dumpfe, leere, totenstille, qualvolle Nächte, in denen er sich, bevor die Wirkung der Tablette einsetzte, unruhig hin und her wälzte. War doch ein gesunder Mann, gerade Vierzig geworden, mit gewissen Bedürfnissen. Kann nicht leugnen, dass in den Nächten Dämonen mit weiblichen Körpern durch meine Träume geisterten, wie auf den Bildern vom Höllenbreughel. Wie Paul das wohl macht. Ein unchristlicher Lustegoist ist er wohl kaum. Klagt häufig über Kopfschmerzen, sicher deshalb. Ist jetzt fünfundvierzig. Glaube nicht, dass in seinem theologisch imprägnierten Gehirn noch Platz ist für erotische Phantasien. Oder dass er gewisse Häuser besucht. Hat sich meines Wissens nie interessiert für das unsaubere Ineinanderschlingen der Körper. Seine engelhafte Vorstellung von den Frauen lässt anderes nicht zu. Vielmehr von Kindesbeinen an fromm und gottesfürchtig. Hab ein ums andere Mal versucht, ihn von der Priesterschaft abzubringen. Ist mir nicht gelungen. Nicht einmal der Krieg hat seine religiöse Berufung geschwächt. Will selbst im Kanonendonner noch den Ruf Gottes gehört haben. Manche Menschen müssen anderen dabei helfen, ihre Seele zu retten, um ihre eigene zu retten. So einer ist Paul.

 

Wäre Gussie nicht gewesen, er wäre vielleicht längst nicht mehr am Leben. Was ihn schnurstracks zu ihr führte, der charmanten Nachbarstochter, war ein ungeheures Bedürfnis nach Trost, und sie war bereit, sich ihm zuzuwenden. Mit Warmherzigkeit und verschwenderischer Fürsorge machte sie ihm das Leben wieder lebenswert. Ihr Tod war in gewisser Weise ein Sühnetod. Sühne für eine Schuld, die sie meinte auf sich geladen zu haben, als er gegen Kriegsende untergetaucht war und sie im Gestapoverhör sein Versteck preisgegeben hatte. Danach wollte sie nicht mehr leben, hatte sich noch in der Haftzelle die Pulsadern aufgeschnitten und Schlaftabletten geschluckt. Aber sie überlebte. Unbeherrschbare Stimmungsschwankungen waren der Preis. Dreieinhalb Jahre später war sie an den Folgen der Medikamentenvergiftung qualvoll gestorben, und zum zweiten Mal musste er hilf- und machtlos zusehen, wie der Sarg mit den sterblichen Überresten seiner Ehefrau ins Grab gesenkt wurde.

 

Das Kreuz eines Doppelwitwers zu tragen ist weniger leicht, als die Leute meinen. Wieder eine neue Qualität von Leid, die jedes andere Leid, das er vorher durchlitten hatte, als bloßes Leid-Zitat erscheinen ließ. Eine ganze Woche lang blieb er unsichtbar, unsichtbar sogar für seine Familie. Verkroch sich in sein Arbeitszimmer, aß kaum, hörte eine Schubert-Schallplatte nach der anderen, zermarterte sich den Kopf über den Sinn all dessen, zweifelte sich gründlich aus, wie andere Leute eine Krankheit ausschwitzen, und fand am Ende zum Glauben zurück. Gott ist kein Hirngespinst. Nicht die Vernunft hat die Tür meines Gestapo-Gefängnisses geöffnet. Das war gottgewollt. Gottgewollt auch das Leiden. Es sind die Prüfungen, aus denen Stärke erwächst.

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