Bonnnn. Bonnnn. Bonnnn. Die Kirchenglocke schlägt mollig zur Dreiviertelstunde. Tick. Tick. Tick, antwortet Adenauers Spazierstock im trägen Rhythmus seiner Schritte. Die unerbittlich ansteigende Karl-Broel-Straße verlangt ihm einiges an Kondition ab. Das frühsommerliche Wetter hat seine Stimmung gehoben und ihn zu einem längeren Kräftigungsspaziergang animiert. Heute ist die Luft leuchtend klar, der Himmel zartblau. Die Hälfte der Pilgerstrecke, die ihn von seinem Zuhause am Zennigsweg bis zum Schreibwarengeschäft von J. C. Heylandt geführt hat, ist bereits absolviert; in seiner linken Manteltasche steckt, zu einem schmalen Rechteck gefaltet, die neue Ausgabe des verlässlich gut unterrichteten „Rheinischen Merkur“.
Wie wenig sich der Ort in den dreißig Jahren, die er hier ansässig ist, verändert hat. Rundherum gutes altes Fachwerk, bretterverschalt mit fahlgrünem Anstrich, dazwischen einige wenige Neubauten mit ausgebautem Dachgeschoss. Bedauerlich nur, dass die schönen alten Obstbäume, die in den ersten beiden Nachkriegswintern aus den Vorgärten verschwunden sind, kaum nachgepflanzt wurden.
Hinter einem Maschendrahtzaun kläfft ein Hund, springt wütend gegen ihn an und verfolgt ihn mit seinem Gebell auch noch, als er längst aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Armes Tier. Niemand hat dich gelehrt, wer dein Freund, wer dein Feind ist.
Auf den Betonplatten des Bürgersteigs hat der Spazierstock nur ein einförmiges Geräusch produziert. Auf dem groben Mosaik rund um das Marienkapellchen ergibt sich jetzt, wenn die Eisenspitze nicht auf einem der kleinen Steinquader aus grauem Westerwälder Basalt landet, sondern im Spalt dazwischen, eine kleine Abwechslung: Tick – tock. Tock – tick – tick. Tick. Bis Anfang des Jahrhunderts fand hier der Gottesdienst statt. Dann wurde zweihundert Meter weiter der große Kirchenbau im neuromanischen Stil errichtet und die Kapelle musste nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihren Namen Mariä Heimsuchung an das neue Gotteshaus abtreten.
Er mag den kleinen Vorgängerbau. Das Neuere ist nicht immer das Schönere. Eher selten. Bruchstein unter einer dicken Schicht Kalkputz. Der rührend überladene Aufbau der Portalfassade. So eine Kapelle, eine kleinere, bescheidenere natürlich, wünscht er sich auf seinem Privatgrundstück. Er hätte sie längst errichten lassen, wäre es ihm nicht seitens des Erzbistums untersagt worden. Frings, die fleischgewordene Opposition.
Die Leute irren, die ihn jeden Sonn- und Feiertag in der Zehn-Uhr-Messe sehen und daraus schließen, er sei der hiesigen Pfarrkirche herzlich verbunden. Letztlich ist es nur Bequemlichkeit, dass er der Gemeinde die Treue hält. Und all den Ärger in Kauf nimmt, den ihm der amtierende Pfarrer bis heute bereitet: Ärger über das Fehlen einer der Würde und der Bedeutung der Heiligen Messe entsprechenden Ausschmückung des Altares und des Chores (an Ostern hat während des religiösen Zeremoniells nicht einmal eine Osterkerze gebrannt), Ärger über die seelenlose Ausgestaltung des Gottesdienstes, Ärger über die ungeschickte Liedauswahl und, daraus resultierend, den schlechten Gesang.
In seinen Augen trägt allein Pfarrer Paulus dafür die Verantwortung. Seit fünfzehn Jahren steht er der Gemeinde vor und hat bis heute nicht begriffen, dass diese nicht seinetwegen da ist, sondern er ihretwegen. Dazu seine oftmals unerträglichen Predigten. Die Kunst der Predigt ist sowieso schon auf dem absteigenden Ast; dieser Pfarrer aber setzt dem noch die Krone auf. Nichts als Halbwahrheiten und Ungereimtheiten. Immer wieder nimmt sich Adenauer vor, Paulus heimlich mit dem Tonbandgerät aufzunehmen und ihn anschließend mit dem Unsinn zu konfrontieren.
Der Kirchenraum ist immerhin vor gut zehn Jahren etwas angenehmer gestaltet worden. An sonnigen Vormittagen malen die vier neuen Bleiglasfenster im Chor (eingeweiht zu seinem achtzigsten Geburtstag) bunte Flecken auf den Steinfußboden. Dass es vier sind, ist aber nur zu erkennen, wenn man das Glück hat, innen in einer der vorderen Reihen zu sitzen. Hab dieses Glück nicht. Kann dafür jederzeit und ohne Aufsehen zu meinem Platz am Rand des Hauptschiffs huschen.
Tock – tick. Tick – tock, morst der Spazierstock. Ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es jemandem aus der Journalistenmeute auffällt, dass ich meine bisherige Gehhilfe aus italienischer Kirsche gegen eine aus russischer Eiche vertauscht habe. Geschenk von Botschafter Smirnow zum neunzigsten Geburtstag. Bei der Übergabe meinte er noch, ich solle ihn nur gleich in Gebrauch nehmen; schnell würde ich feststellen, wie gut es sei, sich zur Abwechslung einmal auf Russland zu stützen.
Die Erinnerung zerknittert sein Gesicht in hundert sich kreuzende Fältchen. Das alte Schlitzohr. Hat die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht. Ich habe ihm freundlich bestätigt, dass der Stock gut in der Hand liegt. Dass man damit wahrscheinlich gut losprügeln kann. Und dass er, wenn ich ihn in Gebrauch nehme, nach meinem Takt marschiert. Hat der Herr Smirnow auch richtig verstanden: Im Gleichschritt marschieren heißt gut marschieren. Soll ein russisches Sprichwort sein.
Man muss nicht immer nur auf die Sowjets schimpfen. Halte ich für ganz falsch. Man soll auch freundlich zu ihnen sein. Jedenfalls nicht unfreundlich. Wie auf dem Parteitag in Bonn, wo ich dem russischen Bären vor großem Publikum freundlich die Tatze gedrückt habe. Mein Abschiedsparteitag als Bundesvorsitzender. Meine Würdigung der Friedensvermittlung Sowjetrusslands im Streit zwischen Pakistan und Indien. Atemlose Stille, als ich erklärte, dies zeige, dass Russland neuerdings auch den Frieden wolle. Reihenweise sind da die Kinnladen heruntergeklappt. Einige Delegierte sind glatt zur Salzsäule erstarrt. Arme ahnungslose Anfänger. Fast die Hälfte der Deutschen wünscht sich heute eine enge Zusammenarbeit mit den Russen. Vor drei Jahren war es nur etwa ein Viertel. Die Meinungsforscher haben das herausbekommen. Woran sich wieder einmal zeigt, wie dumm die Bevölkerung ist. Entsetzlich dumm. Geradezu himmelschreiend dumm. Tick – tick – tock. Tick. Tick – tock – tick.
Gegenüber der Marienkapelle betritt Adenauer jetzt den kleinen Park, der sich in Form eines T zwischen Frankenweg und Drachenfelser Straße erstreckt. Unter dem Trompetenbaum mit seiner ausladenden, dicht verzweigten Krone bleibt er stehen, lehnt den Stock gegen den grobgeschuppten Stamm, nimmt den Hut ab, einen schwarzen Filzhut, dessen Form die Silhouette des Siebengebirges nachahmt, zieht ein buntkariertes Taschentuch heraus, trocknet sich die Stirn, faltet das Taschentuch wieder, steckt es sorgsam zurück, setzt den Hut wieder auf, greift den Stock und lehnt sich mit dem Rücken gegen den Baum. Er spürt die milde Luft auf seiner Haut und nimmt ein paar tiefe Atemzüge. Wieder schlägt die Kirchturmuhr. Zwölf Mal Bonnnn.
Vorletztes Jahr im Herbst lag er zwei Wochen mit Fieber flach; zur selben Zeit, als auch die Regierungskoalition kränkelte. Manche Leute sahen in Beidem einen Zusammenhang. Während die Bonner Krise keine zwei Wochen später zum Rücktritt von Bundeskanzler Erhard führte, war er Mitte November wieder genesen, rechtzeitig zur Übergabe einer Stereo-Schallplatte mit seinen Lieblingsmelodien an Altersheim-Bewohner aus Bonn und Bad Godesberg, von der Presse freundlich Alt-Bürger genannt. Bei dieser Gelegenheit gemachte Pressefotos zeigen ihn im Bonner Büro umringt von nicht minder betagten Damen und Herren, die aus seiner Hand dankbar ein frisch signiertes Exemplar entgegennehmen. Alt-Bürger beim Altkanzler. Der „Spiegel“ hat mich kürzlich sogar als Uraltkanzler bezeichnet. Angeblich zur Unterscheidung, weil es neuerdings auch einen Altkanzler Erhard gibt. Sehr witzig. Keinen Respekt vor der Person, keinen Respekt dem Amt.