Ursprünglich wollte der Vorstand nach seinem 90. Geburtstag dem Parteitag eine Entschließung vorlegen, die mit den Worten begann: „Die Christlich-Demokratische Union nimmt Abschied von ihrem Vorsitzenden Dr. Konrad Adenauer“. Gerade so, als würde die Partei zu seiner Beerdigung schreiten. Getarnt war der Coup mit dem Angebot, ihn dafür zum Ehrenvorsitzenden zu ernennen. Das war seine Henkersmahlzeit, mundgerecht zubereitet. Aber diese Rechnung hatten sie ohne den Wirt gemacht. Kenne meine Pappenheimer. Dilettanten der Politik, Dilettanten der Diplomatie, Dilettanten selbst des gelebten Christentums. Von denen geht keine Gefahr aus.
Auf der Vorstandssitzung, die eigens zu diesem Zweck einberufen wurde, erklärte er mit finsterer Miene, die Wahl nur anzunehmen, wenn er Sitz und Stimme im Vorstand behielte: „Ohne das, meine Herren, tue ich es nicht; da wüsste ich meine Zeit besser anzuwenden. Darüber müssen Sie sich klar sein: entweder – oder!“
Niemand wagte, Widerspruch einzulegen. Der Versuch, ihn seines Platzes in der Welt zu berauben, war gescheitert. Seine Gegner begriffen, dass sie weiter mit ihm zu rechnen hatten. Eine Woche später, auf der Plenarsitzung des Parteitags, wurde er dann per Akklamation, zu der sich alle Teilnehmer von ihren Sitzen erhoben, zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit mit Sitz und Stimme in allen Gremien der Union gewählt, gefolgt von Bravo-Rufen und minutenlangem Beifall. Namens der Partei versicherte sein Nachfolger, alle seien glücklich, dass er die Hände noch nicht in den Schoß legen, sondern durch Mitarbeit und Beratung weiter zur Verfügung stehen wolle. Kein Wort von wahr. Nach der Besänftigung wartet das Gift. Hinter dem Lächeln lauert das Messer.
Wie freundlich und herzlich man seitdem zu mir ist. Oder sind nur meine Erwartungen hinsichtlich Freundlichkeit bescheidener geworden? Weiß genau, was hinter meinem Rücken vorgeht. Der Alte muss weg, raunen sie. Kann es ihnen nicht einmal verdenken. Ich soll das Feld räumen, damit sie nachkommen können. Manches Mal schon habe ich gedacht, dass man mir nur deswegen so zujubelt, weil meine Tage gezählt sind. Wenn sie feststellen können, dass unsere Kräfte nachlassen und wir Anstalten machen, abzutreten, werden die Leute liebenswürdiger.
Am Ende ist es immer die Gier, die uns zur Strecke bringt. Der Wurm lockt den Weißfisch an den Haken, der Weißfisch den Zander.
Madrid und München. Als habe er mit seiner Umtriebigkeit ein Hungergefühl löschen müssen. Frau Dr. Klepper hatte ihn gewarnt. „Tun Sie es nicht, Herr Bundeskanzler. Schonen Sie sich.“ Aber statt auf seine alte Ärztin zu hören – alt nicht unbedingt den Jahren nach, denn sie ist zweiundzwanzig Jahre jünger als er, sondern aufgrund ihrer mittlerweile dreißigjährigen Tätigkeit als Hausärztin der Familie – und sich die dringend angemahnte Verschnaufpause zu gönnen, flog er Mitte Februar für sechs Tage nach Madrid und anschließend für einen Tag nach München; alles schon im Rausch eines leichten Fiebers, das ihm zu einer vibrierenden Aufmerksamkeit verhalf.
Hauptveranlassung der Madridreise war nicht die Verleihung des Großkreuzes des Ordens von Isabella der Katholischen, darauf hätte er verzichten können. Auch nicht die von Spanien ausdrücklich gewünschte Begegnung mit Staatschef Franco, zumal es sich dabei um eine außenpolitisch überaus heikle Mission handelte. Dauerte etwas, bis der Herr warm wurde. Aber dann! Alles gut gelaufen. Kluger, besonnener Mann. Ordnet seine Gedanken und Worte, bevor er sich äußert. Wie herzlich und lange er mir zum Abschied die Hand geschüttelt hat! Ebenso wenig war die Besichtigung des Prado ausschlaggebend für die Reise. Die Inaugenscheinnahme von El Greco erwies sich ja als Reinfall erster Klasse. Solche verzerrten Gestalten kann nur malen, wer an einem Augenfehler leidet. Für meinen Geschmack war auf den Bildern überhaupt zu viel drauf.
Nein, der kaum zu überschätzende Nutzen bestand vielmehr in einem international stark beachteten Vortrag über die Konsequenzen, die sich aus dem Atomkartell der USA und Russlands für Westeuropa zu ergeben drohen. Fiel ziemlich scharf aus. Schuld war aber Kiesinger. Hatte bei mehreren Gelegenheiten gesagt, wir müssten den Atomsperrvertrag unterschreiben. Scheint bis heute nicht zu begreifen, dass in diesem Moment, wo Amerikaner und Russen sich über Europa hinweg die Hand reichen, die Gefahr so groß ist wie nie zuvor. Kann mich zur Raserei bringen, sowas.
Leider musste das gesamte Besuchsprogramm bei unfreundlichem Wetter absolviert werden. Dazu kamen noch gravierende Temperaturunterschiede beim Wechsel von draußen nach drinnen. Abflug in Köln-Wahn bei herrlichem Sonnenschein, Landung in Madrid bei wolkenverhangenem Himmel, die Temperatur nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Das Abendessen in der deutschen Botschaft bei erschlaffender Hitze, dazu die überheizte Suite im Hotel Ritz. An den folgenden Tagen nahm die Kälte zu, auf der Fahrt zum Escorial erst dichter Nebel und Regen, dann Schnee; im Tal der Gefallenen mussten Räumfahrzeuge anrücken, um seinen Besuch überhaupt möglich zu machen. Am Sonntag Weiterflug nach Paris, am Montag Treffen mit de Gaulle, am selben Tag Rückflug bei stürmischem Wetter. Alles nach Ansicht von Frau Dr. Klepper zum Schaden seiner Gesundheit.
Trotzdem acht Tage später Blitzbesuch in München zu einem Festakt der Deutschland-Stiftung in der Universität, Uraufführung des Films „90 Jahre deutscher Geschichte – 90 Jahre Konrad Adenauer“. Anschließend Vergabe des nach ihm benannten Preises. Eine weitere Gelegenheit zu öffentlicher Rede. Um ihm unnötige Reisestrapazen zu ersparen, hatte Herr Jahn, Inhaber der Restaurantkette „Wienerwald“, sich erboten, ihn in seiner Privatmaschine mitzunehmen.
Wieder versuchte Frau Dr. Klepper, ihn von der Reise abzuhalten, zumal in der Nacht vor dem Abflug ein schwerer Sturm aufgekommen war. Er gab sich uneinsichtig. „Irgendwie“, erklärte er ihr, nachdem er sich den Schleim von den Stimmbändern gehustet hatte, „muss ich doch einmal in den Himmel kommen! Sie können sich auf den Kopf stellen und mit den Füßen wackeln, sie ändern nichts. Ich fliege. Ich habe den Leuten versprochen zu kommen. Ich kann die nicht enttäuschen.“ Außerdem konnte er seinen Gegnern in Bonn damit beweisen, dass er noch nicht zu klapprig zum Reisen war.
In München wiederum schädlicher Temperaturwechsel, aus verrauchten und überhitzten Sälen hinaus in die feuchte kalte Luft, zu schwer für seine Lungen. Rückflug im Schneesturm, doch die kleine Maschine lag erstaunlich ruhig in der Luft. Der Herr Jahn war nicht nur ein guter Unternehmer, sondern auch ein guter Pilot.
Lass den Alten nur machen. War es nur Liebedienerei oder ein Anschlag auf seine Gesundheit? Leichtsinnig war es auf jeden Fall, diese geradezu fieberhafte Geschäftigkeit an den Tag zu legen. Hab halt gedacht, die Arbeit würde mich immunisieren. Pustekuchen.
Nicht der Fisch, sondern der Angler. Eine säuberlich präparierte Trophäe über dem Schreibtisch von – ja, von wem eigentlich? Wer hatte ihm denn diese großartigen Möglichkeiten offeriert, die Hand entgegengestreckt, die er freudig ergriff?
München ist insbesondere Ministerpräsident Goppels Idee gewesen. Organisiert hat die Reise dann Dötsch, sein eigener Büroleiter. War das, was sie in Gang setzten, wirklich kalkuliert, tief in ihrem Innern beschlossen? Hatte es seinen Grund in einem ausgetüftelten Plan, steckte böse Absicht dahinter? Eher nicht. Goppel wie Dötsch sind beide harmlose Gemüter mit beschränktem politischem Horizont. Aber sie sind vielleicht nur benutzt worden. Haben sie Hintermänner? Vielleicht Strauß? Die Bayern sind eine Nummer für sich. Wozu die fähig sind, haben sie in den Bauernkriegen gezeigt. Und später auch. Unbeherrscht und dadurch unberechenbar, diese Hinterwäldler. Die Sendlinger Bauernschlacht. Die Räterepublik. Der Bürgerbräu-Putsch. Wer kann wissen, welches Spiel Strauß gerade spielt. Da möchte man nicht der Fisch sein.