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Autorenbild: Jan-Christoph HauschildJan-Christoph Hauschild

Ursprünglich wollte der Vorstand nach seinem 90. Geburtstag dem Parteitag eine Entschließung vorlegen, die mit den Worten begann: „Die Christlich-Demokratische Union nimmt Abschied von ihrem Vorsitzenden Dr. Konrad Adenauer“. Gerade so, als würde die Partei zu seiner Beerdigung schreiten. Getarnt war der Coup mit dem Angebot, ihn dafür zum Ehrenvorsitzenden zu ernennen. Das war seine Henkersmahlzeit, mundgerecht zubereitet. Aber diese Rechnung hatten sie ohne den Wirt gemacht. Kenne meine Pappenheimer. Dilettanten der Politik, Dilettanten der Diplomatie, Dilettanten selbst des gelebten Christentums. Von denen geht keine Gefahr aus.

 

Auf der Vorstandssitzung, die eigens zu diesem Zweck einberufen wurde, erklärte er mit finsterer Miene, die Wahl nur anzunehmen, wenn er Sitz und Stimme im Vorstand behielte: „Ohne das, meine Herren, tue ich es nicht; da wüsste ich meine Zeit besser anzuwenden. Darüber müssen Sie sich klar sein: entweder – oder!“

 

Niemand wagte, Widerspruch einzulegen. Der Versuch, ihn seines Platzes in der Welt zu berauben, war gescheitert. Seine Gegner begriffen, dass sie weiter mit ihm zu rechnen hatten. Eine Woche später, auf der Plenarsitzung des Parteitags, wurde er dann per Akklamation, zu der sich alle Teilnehmer von ihren Sitzen erhoben, zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit mit Sitz und Stimme in allen Gremien der Union gewählt, gefolgt von Bravo-Rufen und minutenlangem Beifall. Namens der Partei versicherte sein Nachfolger, alle seien glücklich, dass er die Hände noch nicht in den Schoß legen, sondern durch Mitarbeit und Beratung weiter zur Verfügung stehen wolle. Kein Wort von wahr. Nach der Besänftigung wartet das Gift. Hinter dem Lächeln lauert das Messer.

 

Wie freundlich und herzlich man seitdem zu mir ist. Oder sind nur meine Erwartungen hinsichtlich Freundlichkeit bescheidener geworden? Weiß genau, was hinter meinem Rücken vorgeht. Der Alte muss weg, raunen sie. Kann es ihnen nicht einmal verdenken. Ich soll das Feld räumen, damit sie nachkommen können. Manches Mal schon habe ich gedacht, dass man mir nur deswegen so zujubelt, weil meine Tage gezählt sind. Wenn sie feststellen können, dass unsere Kräfte nachlassen und wir Anstalten machen, abzutreten, werden die Leute liebenswürdiger.

 

Am Ende ist es immer die Gier, die uns zur Strecke bringt. Der Wurm lockt den Weißfisch an den Haken, der Weißfisch den Zander.

 

Madrid und München. Als habe er mit seiner Umtriebigkeit ein Hungergefühl löschen müssen. Frau Dr. Klepper hatte ihn gewarnt. „Tun Sie es nicht, Herr Bundeskanzler. Schonen Sie sich.“ Aber statt auf seine alte Ärztin zu hören – alt nicht unbedingt den Jahren nach, denn sie ist zweiundzwanzig Jahre jünger als er, sondern aufgrund ihrer mittlerweile dreißigjährigen Tätigkeit als Hausärztin der Familie – und sich die dringend angemahnte Verschnaufpause zu gönnen, flog er Mitte Februar für sechs Tage nach Madrid und anschließend für einen Tag nach München; alles schon im Rausch eines leichten Fiebers, das ihm zu einer vibrierenden Aufmerksamkeit verhalf.

 

Hauptveranlassung der Madridreise war nicht die Verleihung des Großkreuzes des Ordens von Isabella der Katholischen, darauf hätte er verzichten können. Auch nicht die von Spanien ausdrücklich gewünschte Begegnung mit Staatschef Franco, zumal es sich dabei um eine außenpolitisch überaus heikle Mission handelte. Dauerte etwas, bis der Herr warm wurde. Aber dann! Alles gut gelaufen. Kluger, besonnener Mann. Ordnet seine Gedanken und Worte, bevor er sich äußert. Wie herzlich und lange er mir zum Abschied die Hand geschüttelt hat! Ebenso wenig war die Besichtigung des Prado ausschlaggebend für die Reise. Die Inaugenscheinnahme von El Greco erwies sich ja als Reinfall erster Klasse. Solche verzerrten Gestalten kann nur malen, wer an einem Augenfehler leidet. Für meinen Geschmack war auf den Bildern überhaupt zu viel drauf.

 

Nein, der kaum zu überschätzende Nutzen bestand vielmehr in einem international stark beachteten Vortrag über die Konsequenzen, die sich aus dem Atomkartell der USA und Russlands für Westeuropa zu ergeben drohen. Fiel ziemlich scharf aus. Schuld war aber Kiesinger. Hatte bei mehreren Gelegenheiten gesagt, wir müssten den Atomsperrvertrag unterschreiben. Scheint bis heute nicht zu begreifen, dass in diesem Moment, wo Amerikaner und Russen sich über Europa hinweg die Hand reichen, die Gefahr so groß ist wie nie zuvor. Kann mich zur Raserei bringen, sowas.

 

Leider musste das gesamte Besuchsprogramm bei unfreundlichem Wetter absolviert werden. Dazu kamen noch gravierende Temperaturunterschiede beim Wechsel von draußen nach drinnen. Abflug in Köln-Wahn bei herrlichem Sonnenschein, Landung in Madrid bei wolkenverhangenem Himmel, die Temperatur nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Das Abendessen in der deutschen Botschaft bei erschlaffender Hitze, dazu die überheizte Suite im Hotel Ritz. An den folgenden Tagen nahm die Kälte zu, auf der Fahrt zum Escorial erst dichter Nebel und Regen, dann Schnee; im Tal der Gefallenen mussten Räumfahrzeuge anrücken, um seinen Besuch überhaupt möglich zu machen. Am Sonntag Weiterflug nach Paris, am Montag Treffen mit de Gaulle, am selben Tag Rückflug bei stürmischem Wetter. Alles nach Ansicht von Frau Dr. Klepper zum Schaden seiner Gesundheit.

 

Trotzdem acht Tage später Blitzbesuch in München zu einem Festakt der Deutschland-Stiftung in der Universität, Uraufführung des Films „90 Jahre deutscher Geschichte – 90 Jahre Konrad Adenauer“. Anschließend Vergabe des nach ihm benannten Preises. Eine weitere Gelegenheit zu öffentlicher Rede. Um ihm unnötige Reisestrapazen zu ersparen, hatte Herr Jahn, Inhaber der Restaurantkette „Wienerwald“, sich erboten, ihn in seiner Privatmaschine mitzunehmen.

 

Wieder versuchte Frau Dr. Klepper, ihn von der Reise abzuhalten, zumal in der Nacht vor dem Abflug ein schwerer Sturm aufgekommen war. Er gab sich uneinsichtig. „Irgendwie“, erklärte er ihr, nachdem er sich den Schleim von den Stimmbändern gehustet hatte, „muss ich doch einmal in den Himmel kommen! Sie können sich auf den Kopf stellen und mit den Füßen wackeln, sie ändern nichts. Ich fliege. Ich habe den Leuten versprochen zu kommen. Ich kann die nicht enttäuschen.“ Außerdem konnte er seinen Gegnern in Bonn damit beweisen, dass er noch nicht zu klapprig zum Reisen war.

 

In München wiederum schädlicher Temperaturwechsel, aus verrauchten und überhitzten Sälen hinaus in die feuchte kalte Luft, zu schwer für seine Lungen. Rückflug im Schneesturm, doch die kleine Maschine lag erstaunlich ruhig in der Luft. Der Herr Jahn war nicht nur ein guter Unternehmer, sondern auch ein guter Pilot.

 

Lass den Alten nur machen. War es nur Liebedienerei oder ein Anschlag auf seine Gesundheit? Leichtsinnig war es auf jeden Fall, diese geradezu fieberhafte Geschäftigkeit an den Tag zu legen. Hab halt gedacht, die Arbeit würde mich immunisieren. Pustekuchen.

 

Nicht der Fisch, sondern der Angler. Eine säuberlich präparierte Trophäe über dem Schreibtisch von – ja, von wem eigentlich? Wer hatte ihm denn diese großartigen Möglichkeiten offeriert, die Hand entgegengestreckt, die er freudig ergriff?

 

München ist insbesondere Ministerpräsident Goppels Idee gewesen. Organisiert hat die Reise dann Dötsch, sein eigener Büroleiter. War das, was sie in Gang setzten, wirklich kalkuliert, tief in ihrem Innern beschlossen? Hatte es seinen Grund in einem ausgetüftelten Plan, steckte böse Absicht dahinter? Eher nicht. Goppel wie Dötsch sind beide harmlose Gemüter mit beschränktem politischem Horizont. Aber sie sind vielleicht nur benutzt worden. Haben sie Hintermänner? Vielleicht Strauß? Die Bayern sind eine Nummer für sich. Wozu die fähig sind, haben sie in den Bauernkriegen gezeigt. Und später auch. Unbeherrscht und dadurch unberechenbar, diese Hinterwäldler. Die Sendlinger Bauernschlacht. Die Räterepublik. Der Bürgerbräu-Putsch. Wer kann wissen, welches Spiel Strauß gerade spielt. Da möchte man nicht der Fisch sein.

 
 
 
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Plötzlich verspürt Adenauer Lust auf ein bisschen Musik. Und dazu kurz auf dem Sofa langlegen. Andere würden es ausruhen nennen, doch das Wort kommt ihm ungern über die Lippen. Konrad der Dynamische. Er geht hinüber ins Wohnzimmer, schaltet das Tonbandgerät ein, streift die Schuhe ab und streckt sich auf dem Sofa aus.

 

Nun merk' ich erst wie müd‘ ich bin,

Da ich zur Ruh‘ mich lege;

Das Wandern hielt mich munter hin

Auf unwirtbarem Wege.

 

Ein paar Noten, ein paar Worte, und schon ist man Teil der Szene. Eine fahle Winterlandschaft unter einem vollen Mond. Einsamer Wanderer, folge ich den Spuren, die das Wild im Schnee hinterlassen hat. Unklar, ob ich ein Fremder bin oder unter Fremden war. Habe kehrt gemacht, bin in die Dunkelheit geflohen, getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht.

 

Augen schließen und das Gehirn auf Null stellen. Erst mal das Bewusstsein von allem befreien, was nicht zur Empfindung dieses Augenblicks gehört. Gar nicht so einfach. Nur wenn einem das gelingt, entwickelt man ein echtes Gefühl für den Schmerz dieses Menschen. Zurückweisung und Einsamkeit hat er erlebt. Eine Schmerzkaskade, die niemand schöner singt als Karl Erb.

 

Da möchte man nicht der Fisch sein, hat Schwaderlapp gesagt. Ob ihm wohl bewusst ist, was er da Kluges ausgesprochen hat? Jedenfalls nichts Unkluges. Es ist tatsächlich alles eine Frage der Perspektive. Der kleine Weißfisch ist sich gewiss einen trügerischen Moment lang auch wie ein erfolgreicher Jäger vorgekommen. Bis er selbst zur Beute wurde. Und dem Zander erging es nicht anders. Vom Köder verführt, an den Haken gelockt. Am Ende ist es immer die Gier, die uns zur Strecke bringt.

 

Und ich? Bin nie Fisch, immer Angler gewesen. Nie vom Köder verführt und an den Haken gelockt.

 

Ach, dass die Luft so ruhig!

Ach, dass die Welt so licht!

Als noch die Stürme tobten,

War ich so elend nicht.

 

Wirklich nie vom Köder verführt? Vorbei ist es mit der Konzentration auf die Musik. Seine Gedanken schweifen ab, und die Erinnerung befördert unangenehme Fragen an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er steht auf, schaltet das Gerät aus und legt sich wieder hin, schließt die Augen und versucht, seinen Atem dem Rhythmus seines Herzschlags anzupassen.

 

Was, wenn sich herausstellte, dass seine ganze nervöse Regsamkeit zu Jahresbeginn, die Reisen, die Gespräche, die Vorträge und Interviews, wenn das alles letztlich nicht auf eigenem Wollen beruhte, sondern von einer unsichtbaren Hand mehr oder weniger arrangiert worden, wenn sein scheinbar bedachtes Handeln nichts anderes gewesen wäre als die Ausführung der Idee eines andern, nach der Devise: Lass den Alten nur machen, lange hält er das nicht durch, dann trifft ihn der Schlag und wir sind ihn los.

 

Für diese Annahme spricht nicht in erster Linie Plausibilität, sondern statistische Wahrscheinlichkeit. Treulosigkeit und Verrat: Nichts kommt öfter vor in der Menschheitsgeschichte. Die Bibel ist voll davon. Vom Treuebruch des Sündenfalls bis zur Niedertracht des Judaskusses. Muss er seine Feinde im Lager seiner Freunde suchen? Angebliche Freunde, versteht sich, die ihn eingewickelt haben mit dem Ziel, ihn zu ruinieren. Ist es möglich, dass man erneut eine Verschwörung gegen ihn eingefädelt hat, eine letzte, endgültige, gut getarnt durch Lobreden und Liebenswürdigkeiten? Gewiss haben die römischen Senatoren auch gelächelt, bevor sie Caesar ihre Dolche in den Leib rammten.

 

Caesar hieß auch sein Rottweiler. War genauso alt wie die Bundesrepublik. Hat meinen Sturz aber nur um ein Jahr überlebt. Paul und die Frauen hatten sich zusammengetan und gemeinsam das Todesurteil gefällt. Sie meinten, er sei alt und verbraucht. Beinahe jeden Tag lagen sie mir in den Ohren: „Der Arme leidet doch Schmerzen, keine Treppe kann er mehr laufen, eigentlich quält er sich nur noch herum.“ Es kam mir vor, als würden sie über mich reden. Dabei fraß der Caesar immer noch mit gutem Appetit, und bei Sonnenschein lag er liebend gern draußen auf dem weichen Rasen vor der Hütte. „Kommt ja gar nicht in Frage“, verkündete er in scharfem Ton, „Caesar und ich halten einander die Treue.“

 

Daraufhin wurde beschlossen, den Hund ohne seine Einwilligung einschläfern zu lassen. Die Prillwitz musste bei mir vorfühlen. Es war ein Sommerabend, wir hatten eben eine Partie Boccia gespielt (ich 13, die Prillwitz 8 Punkte). Kann mich beim Bocciaspiel gut abreagieren. Besonders in kritischen Zeiten. In unkritischen auch. Wir saßen auf der Terrasse, Caesar zu meinen Füßen, eine Pfote über meinen Schuhen.

 

„Wenn der Caesar eines Tages doch einmal tot ist“, fragte die Prillwitz mit sanfter Stimme, „möchten Sie dann wieder einen Hund haben, Herr Bundeskanzler?“

 

Eine Frage, die auf leisen Pfoten herangeschlichen kam, aber mit dem tödlichen Atem eines Tigers. Deshalb verweigerte er auch jede Antwort. Stattdessen beugte er sich herunter, strich dem Hund liebevoll über das Fell und sagte: „Armer Caesar. Da spricht man von deinem Nachfolger, und du lebst noch und willst auch leben.“

 

Als er wenige Tage später abends nach Hause kam und nicht mit dem gewohnten Bellen begrüßt wurde, wusste er gleich Bescheid. Wieder ein schmählicher Verrat. Nicht einmal eine Gnadenfrist hatten sie dem armen Hund gegönnt. Wir waren beide alt. Wenn Gott den Menschen gnädig ist, dann doch vielleicht auch meinem Cäsar, diesem treuen Tier. Dachte ich. Stattdessen haben sie ihn einfach töten lassen. Aus dem Weg geräumt. Vergangen, vergessen, vorbei.

 

Mit Cäsars Vorgänger Rolf ist es ihm noch schlimmer ergangen. Benannt nach dem berühmten Mannheimer Terrier aus den zwanziger Jahren. Konnte angeblich Sprechen und Rechnen. Soll sich durch Klopfen mit der Pfote verständlich gemacht haben. Ein Mensch in Hundegestalt. Davon war mein Rolf weit entfernt. Dafür aber die treueste Hundeseele, die man sich vorstellen kann. Litt rundum an Altersschwäche. Für den war der Tod eine Erlösung. Aber bis dahin war er eben ein Rottweiler. Scharf und aufmerksam bis zuletzt. Den Tierarzt mit der Todesspritze in der Hand ließ er nicht an sich heran. Ich selbst musste ihm die Henkersmahlzeit beibringen, ein Stück vergiftetes Fleisch. Musste ich wieder dran denken, als ich den Parteivorsitz abgeben sollte. Meine letzte wichtige Funktion.

 
 
 
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„Das Angeln hat Ihnen gewiss Freude bereitet, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp, als er Adenauer zuhause aus dem Mantel hilft.

 

„Danke der Nachfrage“, entgegnet Adenauer. „Vergnügungen, die Geduld oder Gewandtheit oder sogar beides erfordern, sind mein Fach schon immer gewesen. Mit dem Angeln ist es wie mit der Kunst. Ein gewisses Talent –“

 

Er macht eine Pause, um dem Privatsekretär Gelegenheit zu geben, den Gedanken zu Ende zu führen; Schwaderlapp jedoch, der den Mantel gerade auf einen Bügel und den Bügel an einen Garderobenhaken gehängt hat, missversteht sein Zögern. Überzeugt, dass der Alte den Faden verloren hat, wiederholt er sanft: „Ein gewisses Talent –“, womit er gedanklich auf der Stelle tritt.

 

Adenauer bleibt nichts anderes übrig, als den Satz selbst zu vollenden: „Gehört dazu.“

 

Obwohl die dünne Aktentasche nicht gerade auf einen Angelerfolg schließen lässt, glaubt Schwaderlapp, aus dieser Antwort den gegenteiligen Schluss ziehen zu müssen. „Da darf man Ihnen also gratulieren, Herr Bundeskanzler.“

 

„Dürfen Sie. Es war allerdings ein hartes Stück Arbeit. Man muss jeden Schritt genau bedenken. Und vor allem muss man dem andern, in diesem Fall also dem Fisch, immer eine Nasenlänge voraus sein.“

 

„Da möchte man nicht der Fisch sein“, sagt Schwaderlapp.

 

„Nicht? Ja, der hat seine Lektion gelernt. Ich schätze, der passt beim nächsten Mal besser auf.“

 

„Sie haben ihn wieder – zurückgesetzt?“

 

„Ich war so frei. Ein Fünfpfünder, so lang wie mein Arm. Hätten Sie ihn gern als Trophäe über ihrem Bett gehabt?“

 

Die Frage, insbesondere wegen der Verbindung mit seiner Schlafstätte, lässt Schwaderlapp erröten. „Ich – nein“, stottert er, bevor er wieder in seine übliche Rolle zurückfindet. „Sie haben Ihre Entscheidung gewiss nach Abwägung aller Argumente getroffen.“

 

„Allerdings“, bestätigt Adenauer, dreht dem Privatsekretär den Rücken zu und stapft die Treppe in den ersten Stock hinauf, gerade als die wuchtige Standuhr in der Ecke des Flurs, die nur der Hausherr aufziehen darf, 19 Uhr schlägt.

 

Nachher beim Abendessen ruft sich Adenauer wieder das Angelerlebnis vom Nachmittag ins Gedächtnis. Er hat einen großen Fisch gefangen, im Kampf Mann gegen Mann. Weil er geschickt manövriert, jeden Schritt genau bedacht hat. Genau wie der alte Santiago. Santiago! Das ist der Name! Na bitte!

 

Als er fertig gegessen hat, geht er hinüber ins Arbeitszimmer, das zur Hälfte von einem großen Perserteppich aus Isfahan eingenommen wird (Geschenk des Schahs zum Staatsbesuch 1957). Auf dem nierenförmigen Schreibtisch stapeln sich Rechnungen, Honorargutschriften, Einladungen und Prospekte; Banalitäten, die er mit einem verächtlichen Blick streift.

 

Gegenüber auf der Anrichte aus Nussbaumfurnier steht, ohne jede Nachbarschaft, weil es, wie er gern erklärt, so klein es auch ist, den ganzen Raum braucht, das Bild einer Kreuzigungsgruppe. Es ist auf Goldgrund gemalt, ein düsteres Gegenstück zur Madonna im Rosenhag im Kölner Museum. Italienische Schule des 15. Jahrhunderts, hat ihm sein Kunsthändler versichert. Es ist noch schlichter, noch weniger auf Wirkung bedacht als das Altarbild im Schlafzimmer mit dem sterbenden Gekreuzigten, der vom warmen Rot göttlichen Erbarmens umfangen wird.

 

Grausame Hoffnungslosigkeit geht von dem kleinen Bild aus. Gerade darum liebt er es besonders. Der Maler ist ehrlich gewesen. Das Leben ist kein Paradiesgarten. Im Vordergrund Maria und Johannes, zwei vom Schmerz gezeichnete Gestalten in kahler Felsenlandschaft, einsam hoch über ihnen ein Christus am Kreuz in leidvoller Ergebenheit, umschwebt von vier Engelsgestalten, die sein Blut in Kelchen auffangen. Sonst keinerlei Beiwerk. Nichts soll von der erschütternden Szene ablenken. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Prägnanter ist das Thema grenzenloser Einsamkeit kaum darzustellen.

 
 
 
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