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Autorenbild: Jan-Christoph HauschildJan-Christoph Hauschild

Die erste Seite des Nachrufs ist geschafft. Mit schwitzenden Fingern blättert Schwaderlapp um.

 

„Am Pünktchen Pünktchen Pünktchen saß Dr. Adenauer zum letzten Mal auf seinem Abgeordnetenplatz in der ersten Reihe des Bonner Parlaments, wo er neunzehn Jahre zuvor mit der geringstmöglichen Mehrheit von 202 Stimmen zum ersten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde.“

 

In diesem Moment drückt eine Windbö gegen die Fensterscheiben und lässt die Terrassentür kurz erzittern.

 

„Gewitterwind“, stellt Adenauer gelassen fest. „Weiter.“

 

„In letzter Zeit lebte der Rosenliebhaber zurückgezogen. Kunst, Musik und Literatur waren ihm wichtiger als politische Machtspiele. Johannes Schwaderlapp (33), der im vergangenen Jahr Elisabeth Prillwitz (39) als Privatsekretär des greisen Parteichefs ablöste, berichtet: Von Karl Wag –“

 

„Nicht Wag! May!“–

 

„– Liebte er besonders die ‚Meineton‘ –“

 

„Schreibe ich so undeutlich? ‚Winnetou‘ natürlich! Ich glaube, es ist zu dunkel zum Lesen. Schalten Sie doch mal das Licht an. Das an der Decke. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht.“

 

Gehorsam erhebt sich Schwaderlapp, betätigt den Lichtschalter neben der Tür und setzt sich wieder.

 

„Viel besser“, lobt Adenauer seine eigene Entscheidung.

 

„Von Karl May liebte er besonders die „Winnetou“-Trilogie. Zuletzt lasen wir auf seinen Wunsch ‚Sonderbare Käuze‘ von Joseph Conrad.“

 

Schwaderlapp lässt das Doppelblatt sinken. „Verzeihung, Herr Bundeskanzler, ‚Sonderbare Käuze‘ haben wir im letzten Herbst gelesen. Zurzeit lesen wir Rudyard Kipling, ‚Das Licht erlosch‘.

 

„Spielt keine Rolle“, wischt Adenauer den Einwand zur Seite. „Conrad passt besser. Conrad mit C und Konrad mit K. Hab ich immer sehr gemocht. Aber nicht nur deswegen. ‚Taifun‘ zum Beispiel. Eines meiner Lieblingsbücher. Hat mich in schwierigen Situationen immer wieder neu belebt. Kennen Sie das?“

 

Schwaderlapp, ehrlich betrübt, schüttelt den Kopf. „Bedauerlicherweise nein, Herr Bundeskanzler.“

 

„Also das lege ich Ihnen unbedingt ans Herz. Dieser Kapitän MacWhirr... Ein ganz unglaublicher Bursche. Ungeliebt von seiner Familie, unverstanden von seiner Mannschaft. Die Gefahr eines schweren Tropensturms vor Augen, hält er sein Schiff eisern auf dem festgesetzten Kurs. Meistert die Krise mit Konsequenz und Geduld. Woran man wieder einmal sieht, dass es in der Welt auf Beharrlichkeit ankommt. Je größer die Schwierigkeiten, je ernster die Lage, desto wichtiger ist es, einen klaren Kopf und starke Nerven zu behalten. Das Ideal hochhalten und trotzdem das Richtige tun.“

 

„So ähnlich hat es Goethe formuliert, Herr Bundeskanzler.“

 

„Sehen Sie. Ich denke mir das nicht einfach aus. Das sind ewige Wahrheiten, die auf Einsichten beruhen. Ich predige das meinen Leuten schon seit Jahren. Ohne Erfolg, wie Sie wissen. Und jetzt weiter im Text.“

 

„Jawohl. Im persönlichen Gespräch mit Staatsmännern aus aller Welt brillierte Bonns großer alter Mann immer wieder mit exzellenten Kenntnissen in Latein und Griechisch, Hebräisch, Französisch und Englisch. Nach Aussage von Maria Klefisch (46), seiner Rhöndorfer Reinemachefrau, sprach der gebürtige Kölner außerdem Platt, aber sowat von einwandfrei!“ – Das ‚sowat‘ haben Sie absichtlich mit ‚t‘ geschrieben?“

 

Adenauer nickt gelangweilt.

 

„Natürlich. Entschuldigen Sie. – Das rücksichtslose Agieren der Großmächte und das hilflose „Herumgeeiere“ (Adenauer) der Regierungskoalition betrachtete der 92-Jährige zuletzt mit großer Verbitterung. Über die Amtsführung des gegenwärtigen Außenministers Brandt äußerte er sich dagegen wohlwollend. Ich teile die scharfe Kritik an Brandt nicht, ließ der langjährige Partei- und Regierungschef kürzlich verlauten.“

 

„Halt stopp!“ unterbricht Adenauer. „Vielleicht wäre es besser, hier einen Namen einzusetzen. Ich würde Ihren nehmen, aber Sie sind ja schon bei der Lektüre zitiert.“

 

„Das wäre auch zu viel der Ehre, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp.

 

„Irgendein Name muss rein. Schlagen Sie jemanden vor.“

 

„Sie könnten den „Spiegel“ selbst angeben: ‚Ließ der langjährige Partei- und Regierungschef kürzlich gegenüber unserem Magazin verlauten.‘“

 

„Das ist gut“, freut sich Adenauer. „Damit sind wir aus dem Schneider. Schreiben Sie das gleich rein. Da, nehmen Sie den Grünstift vom Schreibtisch. Dann weiß jeder, dass es von mir kommt.“

 

Rumpelnder Donner in der Ferne kündigt das erwartete Gewitter an.

 

„Sehen Sie mal“, sagt Adenauer und nimmt das jenseitige Ufer ins Visier, „drüben regnet es schon.“ Dann schaut er zufrieden zu, wie Schwaderlapp mit grünem Kopierstift die Korrektur vornimmt. „Jetzt nochmal im Zusammenhang“, fordert er den Privatsekretär auf.

 

„Sehr gerne“, lässt sich Schwaderlapp vernehmen. „Über die Amtsführung des gegenwärtigen Außenministers Brandt äußerte er sich dagegen wohlwollend. Ich teile die scharfe Kritik an Brandt nicht, ließ der langjährige Partei- Und Regierungschef kürzlich gegenüber unserem Magazin verlauten. Man muss Brandt Zeit geben, sich zu bewähren.“

 

Schwaderlapps Augen wandern hinüber auf Seite 3. Sie ist besonders stark korrigiert; offenbar hat Adenauer lange um die richtige Formulierung ringen müssen.

 

„Die Beisetzung findet in der Krypta des Kölner Doms statt. Das Angebot von Kardinal Frings, Adenauer auf Kosten des Erzbistums Köln eine Privatkapelle mit eigener Grablege auf seinem Grundstück errichten zu lassen, war von Rhöndorfs prominentestem Einwohner mit der Begründung abgelehnt worden, das Dach des Glockenturms könnte den Verlauf der geplanten Drahtseilbahn vom Marktplatz zum Drachenfels, der als meistbestiegener Berg der Welt gilt, beeinträchtigen.“

 

Bevor Schwaderlapp umblättert, fährt er mit seinen schweißigen Handflächen ein paar Mal über seine Oberschenkel. Seite 4, stellt er erleichtert fest, ist glücklicherweise nur zur Hälfte beschrieben. Das Ende ist nahe.

 

„Deren Errichtung, mahnte der viermalige Bundeskanzler unlängst in einem Brief an die Kreisverwaltung, sei aber dringend notwendig, wenn Rhöndorf vom millionenstarken Fremdenverkehr profitieren wolle, der gegenwärtig größtenteils auf der anderen Seite des Drachenfels von der Stadt Königswinter aufgefangen werde. Und dabei wird der ‚Vater der Füchse‘ (Chruschtschow über Adenauer) nichts Geringeres im Sinn gehabt haben, als dass die Umlenkung des millionenstarken Touristenstroms nach Rhöndorf das Wohnhaus des Vorkämpfers der Vereinigten Europäischen Staaten nach seinem Ableben zu einem politischen Wallfahrtsort ersten Ranges machen dürfte.“

 

„Und?“ erkundigt sich Adenauer und nimmt seine Lieblingsposition ein, den Rücken dicht an der gepolsterten Lehne, das Kinn in die rechte Hand gestützt.

 

„Alle – Achtung“, sagt Schwaderlapp langsam. „Ich bewundere Ihre – Ehrlichkeit, Herr Bundeskanzler. Ehrlichkeit und – Offenheit.“

 

„Alles hundertprozentig wahr“, bekräftigt Adenauer. „Meine Erdenzeit wird allmählich auch zu knapp zum Lügen.“

 

„Sehr liebenswürdig, meinen Namen zu erwähnen.“

 

„Nicht nur den Namen. Als Zeugen.“

 

Plötzlich trommelt Regen auf das Dach des Pavillons, schlägt in Schwaden gegen die Frontscheiben.

 

„Jetzt geht’s aber los“, bemerkt Adenauer. „Und drüben ist schon wieder alles hell!“

 

Beide sehen gebannt, wie für einen kurzen Moment die Sonne hervortritt und alles in ein gleißendes Licht taucht. Tausendfach glitzern und funkeln Wassertropfen, und auf grauem Wolkengrund erscheint ein doppelter Regenbogen.

 
 
 
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Adenauer beugt sich nach vorn und tippt auf den blauen Aktendeckel, der vor ihm auf dem Tischchen liegt. „Immer besser, sowas selbst in die Hand zu nehmen.“

 

„Sie wollen Ihren eigenen Nachruf vorbereiten?“

 

„Ich will nicht bloß, ich habe. Und weil es eine heikle Sache ist, habe ich ihn selbst verfasst.“

 

„Das ist ungewöhnlich. Sie werden Ihre Gründe haben, Herr Bundeskanzler.“

 

„Das dürfen Sie annehmen. Nun wird es ja nicht nur den einen verbindlichen, gewissermaßen autorisierten Nachruf geben. Aber es gibt zweifellos solche, die mehr, und solche, die weniger Beachtung finden werden. Ich bin der Ansicht, dass – vor allem im Ausland – der „Spiegel“ des Herrn Augstein stark gelesen wird. Nicht dass Sie mich falsch verstehen, Herr Schwaderlapp. Von dem Schmutzblatt halte ich sonst rein gar nichts. Zum Glück macht sich das ja irgendwann von selbst kaputt.“

 

Befriedigt konstatiert Adenauer, dass sein Gegenüber durch braves Nicken Zustimmung signalisiert.

 

„Aber der Nachruf im „Spiegel“ wird kommen, totensicher. Und da habe ich ihn lieber gleich selbst geschrieben. Sie, mein Lieber, werden ihn dann an die zuständige Stelle gelangen lassen. – Ich kann Ihnen versichern, dass ich mir große Mühe gegeben habe, dabei den hauseigenen Stil vom „Spiegel“ zu treffen. Die Artikel sind ja alle nach dem gleichen Muster gestrickt. Das fängt schon mit der Überschrift an. Stabreime, wohin man sieht. Sie wissen, was ein Stabreim ist? „Erhards Ermächtigungsgesetz.“ Zweimal E. Oder „Wirtschafts-Wundermann ohne Wählergunst.“ Drei W. Nein, Sie können ja nicht alles wissen. Dann gibt es ständig Zitate mit wörtlicher Rede, die Leuten aus dem Umkreis in den Mund gelegt werden. Meistens wahrscheinlich erfunden oder zumindest verfälscht. In meinem Fall scheint es darüber hinaus eine Anweisung von Augstein zu geben, meinen Namen erst dann ein zweites Mal zu erwähnen, wenn er zwischendurch mindestens dreimal durch Synonyme ersetzt worden ist.“

 

„Durch Antonomasien“, wirft Schwaderlapp ein, bereut seine Vorwitzigkeit aber sogleich wieder.

 

„Ganz wie Sie meinen. Ohne dem geht es praktisch nicht.“

 

Adenauer öffnet den Aktendeckel und entnimmt ihm ein einzelnes Blatt. „Ich hab mir diese meine Antodingens mal rausgeschrieben. Bloß mal aus den letzten vier, fünf Jahren. Der Exkanzler. Der Rosenliebhaber. Der gebürtige Kölner. Der langjährige Partei- und Regierungschef. Der 88-Jährige, der 89-Jährige, der 90-Jährige, der 91-Jährige, der 92-Jährige. Und so weiter. Zwei Dutzend Ersatzwörter für meine Person, und alles bloß, damit mein Name nicht so oft genannt wird.“

 

„Es gehört wohl zum journalistischen Schreiben, für kurze Pronomina einprägsame Stellvertreter zu finden“, wendet Schwaderlapp vorsichtig ein. „Auch wenn sie, wie hier… nahezu reißerischen Charakter haben.“

 

„Meinen Sie?“ Für einen Moment verdüstert sich Adenauers Gesicht. „Und was ist mit Vorkämpfer der Vereinigten Europäischen Staaten? Wäre das nicht auch ein passendes Antodingsbums gewesen? Aber darauf kann ich lange warten.– Nein, Herr Schwaderlapp“, fällt er diesem ins noch nicht ausgesprochene Wort, „Sie sehen mal wieder das Häschen, und ich sehe den Mimofanten. Aber egal. Sie sind hier, damit ich Sie mit dem Ergebnis meiner Arbeit bekannt machen kann. Betrachten Sie es getrost schon jetzt als ihr eigenes Werk. Sie werden sich dessen nicht schämen müssen.“

 

Abermals öffnet er den Aktendeckel und entnimmt ihm einen Bogen Kanzleipapier, der von oben bis unten mit seinen engen, steilen Schriftzügen bedeckt ist. „Hier“, sagt er und reicht das Manuskript dem Privatsekretär, der es scheu entgegennimmt. „Und lesen Sie laut vor.“

 

„Gestorben“, liest Schwaderlapp nach einem kurzen Räuspern und blinzelt nervös. Ihm ist unbehaglich zumute. „Konrad Hermann Joseph Adenauer, Doktor ehrenhalber, Bundeskanzler außer Diensten, katholisch (92). Eigentlich hatte Konrad Adenauer am –“

 

„Das sind Auslassungspunkte“, wirft Adenauer erläuternd ein. „Genauer Termin wird noch bekanntgegeben“, fügt er mit grimmigem Lächeln hinzu.

 

„Ihr Humor, Herr Bundeskanzler“, bemerkt Schwaderlapp unsicher, „ist, wenn ich das sagen darf, geradezu kaustisch“.

 

„Weiter“, sagt Adenauer ungeduldig.

 

„Eigentlich hatte Konrad Adenauer am Pünktchen Pünktchen Pünktchen“, nimmt Schwaderlapp den Faden wieder auf, „wieder einmal seiner jüngsten Leidenschaft, dem Angeln, nachgehen wollen. Laut Aussage von Kanzler-Chauffeur Peter Scharoun ließ sich der Rhöndorfer Pensionär in letzter Zeit häufig zum Rheinufer fahren, um dort in Gesellschaft weiterer Petrijünger mit einer einfachen –“ Schwaderlapp zögert, schaut Adenauer fragend an: „Augapfel?“

 

„Stippangel!“

 

 „– einer einfachen Stippangel Jagd auf Raubfische zu machen. Auch hierbei bewies er wie stets eine glückliche Hand. Scharoun: Erst neulich brachte mir der Chef einen Zander, einen Achtpfünder, armdick und mindestens 60 cm lang. Doch in der Nacht zuvor verstarb der Bundespatriarch, mutmasslich an Weltorganisa –“

 

„Multiorganversagen“, korrigiert Adenauer.

 

„–Multiorganversagen nach einer Reihe von Gallenkoliken“, fährt Schwaderlapp fort. „Adenauers Hausärztin Dr. Ella Klepper sieht einen Zusammenhang mit der Arbeit am Schlusskapitel des vierten Bandes seiner Memoiren, das ausführlich von seinem erzwungenen Rücktritt und der Wahl seines Nachfolgers Prof. Erhard handelt. Dr. Klepper: Der Bundeskanzler hat sich buchstäblich totgeärgert. Nach Bekanntgabe seines Hinscheidens purzelten die Kurse an der Frankfurter Börse.“

 
 
 
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„Hmm“, sinniert Schwaderlapp. Konzentriert starrt er auf das flüchtige Gebilde, auf das Adenauer ihn soeben aufmerksam gemacht hat. „Ein Häschen?“

 

„Wohl eher ein Lockenkopf. Ein Kopf – mit Rüssel. Ein Mimofant. Sie wissen, dass man Erhard hinter seinem Rücken den Mimofanten nennt?“

 

Schwaderlapp schüttelt artig den Kopf. „Nein, das… Das ist mir bisher nicht zu Ohren gekommen.“

 

Adenauers Gesicht verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ganz einfach. Er verbindet die Empfindsamkeit der Mimose mit dem Gedächtnis eines Elefanten. – Schwupp, ist der Rüssel weg. Und jetzt?“

 

„Ein Ohr?“

 

„Wenn sie mal das Ganze betrachten, von da bis da, ist es ein Schwimmer mit Badekappe.“

 

Die Luft ist stickig im kleinen Pavillon, wegen der schwülwarmen Witterung bleibt die Terrassentür ausnahmsweise geschlossen. Den ganzen Nachmittag schon ziehen blassblaue, dickgeballte und gekräuselte Gewitterwolken über den Himmel. Adenauer, der seinen Privatsekretär zu sich bestellt hat, um ihn mit dem Ergebnis seiner jüngsten Ausarbeitung bekannt zu machen, steht mit Schwaderlapp vor dem Panoramafenster und gibt sich in seinem Beisein einer Lieblingsbeschäftigung hin, der Interpretation sonderbarer Wolkengestalten. Er ermuntert ihn auch zu eigenen Deutungsvorschlägen.

 

„Das da?“

 

„Eine weibliche Büste.“

 

„Sie meinen einen Busen oder eine Büste?“

 

„Schon einen Busen“, korrigiert sich Schwaderlapp, leicht errötend. „Aber jetzt ist es ein Kinn an einem großen Kopf. An einem geradezu monströsen Kopf.“

 

„Ja, das könnte man so sehen. Übrigens – jetzt werde ich mal philosophisch –: Daran können Sie sehen, wie schnell aus etwas Idealschönem durch kleine Veränderungen etwas Hässliches werden kann, eine Missgestalt. Umgekehrt gilt das genauso: Manchmal braucht es nur etwas Geduld, und die Dinge wenden sich zum Guten. Ich sehe aber auch einen Fisch mit einem aufgesperrten Maul. Der dunkle Fleck ist das Auge. Manche Fische, beispielsweise der Zander, haben ja die Augen direkt über dem Maul.“

 

„Ich bewundere Ihre Phantasie, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp. „Phantasie, die aber das Reale zum Ausgangspunkt macht.“

 

„Alles jahrelanges Training“, winkt Adenauer ab. „Es gibt zwei Fähigkeiten, die man als Politiker unbedingt haben muss, wenn man erfolgreich sein will. Einen sicheren Instinkt und rasche Phantasie.“

 

„Rasche?“ vergewissert sich Schwaderlapp.

 

„Sie haben richtig gehört. Die Dinge ändern sich schnell, und die Phantasie muss mithalten. Das gilt für Wolkenbilder genauso wie für die Tatsachen des Lebens. Ich bin in der glücklichen Lage, sehr schnell denken zu können. Vergleichsweise mit Tempo Hundertvierzig, wenn wir annehmen, dass der Normalmensch mit Tempo Sechzig denkt. Da, jetzt ist aus dem Fisch ein tanzender Derwisch geworden. Solche schnellen Veränderungen, die muss man als Politiker mitkriegen. Spüren, analysieren, reagieren. Die Phantasielosigkeit der andern – und selbstverständlich auch ihre Dummheit – ist immer mein Vorteil gewesen. Dumm zu sein ist bekanntlich nicht gerade meine Stärke.“

 

„Das kann Ihnen niemand nachsagen.“

 

„Nachsagen ist das richtige Stichwort, Herr Schwaderlapp“, sagt Adenauer, den Zeigefinger zur Begleitung seiner Worte erhoben. „Genau darum geht es. Setzen wir uns.“

 

Mit einer Armbewegung bugsiert er den Privatsekretär zu dem kleinen achteckigen Salontischchen vor der Regalwand, wo sich zwei mit hellem Stoff bezogene Polsterstühle gegenüberstehen. Höflich wartet Schwaderlapp, bis sein Chef Platz genommen hat, und bevor er selbst sich setzt, vergewissert er sich, dass er dabei nicht an das in seinem Rücken aufgestellte Porträtfoto von Paul VI. stößt.

 

„Den dürfen Sie ruhig umwerfen“, sagt Adenauer mit einem verächtlichen Grinsen. „Wenn der runterfliegt, das macht nichts. Der ist Fliegen gewohnt.“

 

„Der Heilige Vater ist ein moderner Pilger“, entgegnet Schwaderlapp versöhnlich.

 

„So lange er keinen Staatsbesuch bei der Zonenregierung macht, ist mir das auch egal. Also. Es geht um Folgendes. Ich habe in letzter Zeit versucht, ein bisschen Vorsorge zu treffen für die Zeit nach meinem Ableben.“

 

Der in die Höhe gereckte Finger unterbindet Schwaderlapps höflichen Protest. „Nein nein, machen wir uns nichts vor, das kann jeden Tag passieren. In meinem Alter sollte man dahinscheiden können, ohne dass die Menschen schockiert sind. Morgen Nachmittag, wenn meine elf Getreuen hier anmarschieren, werde ich über sehr wichtige Dinge sprechen, die Zukunft unserer Partei und unseres Landes betreffend. Nicht über Zeiten und Fristen; mehr über das Grundsätzliche. Ich werde Aufgaben verkünden, und diese elf Herren werden meine Zeugen sein. Eine Sache, Herr Schwaderlapp, liegt mir aber genauso am Herzen, und das ist mein Nachruf. Und den habe ich beschlossen Ihnen anzuvertrauen.“

 
 
 
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