Die erste Seite des Nachrufs ist geschafft. Mit schwitzenden Fingern blättert Schwaderlapp um.
„Am Pünktchen Pünktchen Pünktchen saß Dr. Adenauer zum letzten Mal auf seinem Abgeordnetenplatz in der ersten Reihe des Bonner Parlaments, wo er neunzehn Jahre zuvor mit der geringstmöglichen Mehrheit von 202 Stimmen zum ersten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde.“
In diesem Moment drückt eine Windbö gegen die Fensterscheiben und lässt die Terrassentür kurz erzittern.
„Gewitterwind“, stellt Adenauer gelassen fest. „Weiter.“
„In letzter Zeit lebte der Rosenliebhaber zurückgezogen. Kunst, Musik und Literatur waren ihm wichtiger als politische Machtspiele. Johannes Schwaderlapp (33), der im vergangenen Jahr Elisabeth Prillwitz (39) als Privatsekretär des greisen Parteichefs ablöste, berichtet: Von Karl Wag –“
„Nicht Wag! May!“–
„– Liebte er besonders die ‚Meineton‘ –“
„Schreibe ich so undeutlich? ‚Winnetou‘ natürlich! Ich glaube, es ist zu dunkel zum Lesen. Schalten Sie doch mal das Licht an. Das an der Decke. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht.“
Gehorsam erhebt sich Schwaderlapp, betätigt den Lichtschalter neben der Tür und setzt sich wieder.
„Viel besser“, lobt Adenauer seine eigene Entscheidung.
„Von Karl May liebte er besonders die „Winnetou“-Trilogie. Zuletzt lasen wir auf seinen Wunsch ‚Sonderbare Käuze‘ von Joseph Conrad.“
Schwaderlapp lässt das Doppelblatt sinken. „Verzeihung, Herr Bundeskanzler, ‚Sonderbare Käuze‘ haben wir im letzten Herbst gelesen. Zurzeit lesen wir Rudyard Kipling, ‚Das Licht erlosch‘.
„Spielt keine Rolle“, wischt Adenauer den Einwand zur Seite. „Conrad passt besser. Conrad mit C und Konrad mit K. Hab ich immer sehr gemocht. Aber nicht nur deswegen. ‚Taifun‘ zum Beispiel. Eines meiner Lieblingsbücher. Hat mich in schwierigen Situationen immer wieder neu belebt. Kennen Sie das?“
Schwaderlapp, ehrlich betrübt, schüttelt den Kopf. „Bedauerlicherweise nein, Herr Bundeskanzler.“
„Also das lege ich Ihnen unbedingt ans Herz. Dieser Kapitän MacWhirr... Ein ganz unglaublicher Bursche. Ungeliebt von seiner Familie, unverstanden von seiner Mannschaft. Die Gefahr eines schweren Tropensturms vor Augen, hält er sein Schiff eisern auf dem festgesetzten Kurs. Meistert die Krise mit Konsequenz und Geduld. Woran man wieder einmal sieht, dass es in der Welt auf Beharrlichkeit ankommt. Je größer die Schwierigkeiten, je ernster die Lage, desto wichtiger ist es, einen klaren Kopf und starke Nerven zu behalten. Das Ideal hochhalten und trotzdem das Richtige tun.“
„So ähnlich hat es Goethe formuliert, Herr Bundeskanzler.“
„Sehen Sie. Ich denke mir das nicht einfach aus. Das sind ewige Wahrheiten, die auf Einsichten beruhen. Ich predige das meinen Leuten schon seit Jahren. Ohne Erfolg, wie Sie wissen. Und jetzt weiter im Text.“
„Jawohl. Im persönlichen Gespräch mit Staatsmännern aus aller Welt brillierte Bonns großer alter Mann immer wieder mit exzellenten Kenntnissen in Latein und Griechisch, Hebräisch, Französisch und Englisch. Nach Aussage von Maria Klefisch (46), seiner Rhöndorfer Reinemachefrau, sprach der gebürtige Kölner außerdem Platt, aber sowat von einwandfrei!“ – Das ‚sowat‘ haben Sie absichtlich mit ‚t‘ geschrieben?“
Adenauer nickt gelangweilt.
„Natürlich. Entschuldigen Sie. – Das rücksichtslose Agieren der Großmächte und das hilflose „Herumgeeiere“ (Adenauer) der Regierungskoalition betrachtete der 92-Jährige zuletzt mit großer Verbitterung. Über die Amtsführung des gegenwärtigen Außenministers Brandt äußerte er sich dagegen wohlwollend. Ich teile die scharfe Kritik an Brandt nicht, ließ der langjährige Partei- und Regierungschef kürzlich verlauten.“
„Halt stopp!“ unterbricht Adenauer. „Vielleicht wäre es besser, hier einen Namen einzusetzen. Ich würde Ihren nehmen, aber Sie sind ja schon bei der Lektüre zitiert.“
„Das wäre auch zu viel der Ehre, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp.
„Irgendein Name muss rein. Schlagen Sie jemanden vor.“
„Sie könnten den „Spiegel“ selbst angeben: ‚Ließ der langjährige Partei- und Regierungschef kürzlich gegenüber unserem Magazin verlauten.‘“
„Das ist gut“, freut sich Adenauer. „Damit sind wir aus dem Schneider. Schreiben Sie das gleich rein. Da, nehmen Sie den Grünstift vom Schreibtisch. Dann weiß jeder, dass es von mir kommt.“
Rumpelnder Donner in der Ferne kündigt das erwartete Gewitter an.
„Sehen Sie mal“, sagt Adenauer und nimmt das jenseitige Ufer ins Visier, „drüben regnet es schon.“ Dann schaut er zufrieden zu, wie Schwaderlapp mit grünem Kopierstift die Korrektur vornimmt. „Jetzt nochmal im Zusammenhang“, fordert er den Privatsekretär auf.
„Sehr gerne“, lässt sich Schwaderlapp vernehmen. „Über die Amtsführung des gegenwärtigen Außenministers Brandt äußerte er sich dagegen wohlwollend. Ich teile die scharfe Kritik an Brandt nicht, ließ der langjährige Partei- Und Regierungschef kürzlich gegenüber unserem Magazin verlauten. Man muss Brandt Zeit geben, sich zu bewähren.“
Schwaderlapps Augen wandern hinüber auf Seite 3. Sie ist besonders stark korrigiert; offenbar hat Adenauer lange um die richtige Formulierung ringen müssen.
„Die Beisetzung findet in der Krypta des Kölner Doms statt. Das Angebot von Kardinal Frings, Adenauer auf Kosten des Erzbistums Köln eine Privatkapelle mit eigener Grablege auf seinem Grundstück errichten zu lassen, war von Rhöndorfs prominentestem Einwohner mit der Begründung abgelehnt worden, das Dach des Glockenturms könnte den Verlauf der geplanten Drahtseilbahn vom Marktplatz zum Drachenfels, der als meistbestiegener Berg der Welt gilt, beeinträchtigen.“
Bevor Schwaderlapp umblättert, fährt er mit seinen schweißigen Handflächen ein paar Mal über seine Oberschenkel. Seite 4, stellt er erleichtert fest, ist glücklicherweise nur zur Hälfte beschrieben. Das Ende ist nahe.
„Deren Errichtung, mahnte der viermalige Bundeskanzler unlängst in einem Brief an die Kreisverwaltung, sei aber dringend notwendig, wenn Rhöndorf vom millionenstarken Fremdenverkehr profitieren wolle, der gegenwärtig größtenteils auf der anderen Seite des Drachenfels von der Stadt Königswinter aufgefangen werde. Und dabei wird der ‚Vater der Füchse‘ (Chruschtschow über Adenauer) nichts Geringeres im Sinn gehabt haben, als dass die Umlenkung des millionenstarken Touristenstroms nach Rhöndorf das Wohnhaus des Vorkämpfers der Vereinigten Europäischen Staaten nach seinem Ableben zu einem politischen Wallfahrtsort ersten Ranges machen dürfte.“
„Und?“ erkundigt sich Adenauer und nimmt seine Lieblingsposition ein, den Rücken dicht an der gepolsterten Lehne, das Kinn in die rechte Hand gestützt.
„Alle – Achtung“, sagt Schwaderlapp langsam. „Ich bewundere Ihre – Ehrlichkeit, Herr Bundeskanzler. Ehrlichkeit und – Offenheit.“
„Alles hundertprozentig wahr“, bekräftigt Adenauer. „Meine Erdenzeit wird allmählich auch zu knapp zum Lügen.“
„Sehr liebenswürdig, meinen Namen zu erwähnen.“
„Nicht nur den Namen. Als Zeugen.“
Plötzlich trommelt Regen auf das Dach des Pavillons, schlägt in Schwaden gegen die Frontscheiben.
„Jetzt geht’s aber los“, bemerkt Adenauer. „Und drüben ist schon wieder alles hell!“
Beide sehen gebannt, wie für einen kurzen Moment die Sonne hervortritt und alles in ein gleißendes Licht taucht. Tausendfach glitzern und funkeln Wassertropfen, und auf grauem Wolkengrund erscheint ein doppelter Regenbogen.